Goodbye Kreisky Foto nesterval

Am Zahn der Zeit hat sich die Nesterval-Truppe in ihrem aktuellen Stück Goodbye Kreisky einen Handlungsspielraum erschaffen, der Vergangenheit ins Jetzt holt und dabei Bilder über Distanz schickt.

Goodbye Kreisky Theaterkritik

Einst Wiens größter Stolz, heute reine Nostalgie: die Sozialdemokratie. Eine einzigartige Entdeckung kommt im Sommer 2020 zutage: tief unter dem Karlsplatz wird eine vergessene Anlage freigelegt, die 1969 von Gertrude Nesterval erbaut wurde. Dort lebten im Vergessenen nun 50 Jahre lang Sozialdemokat*innen aus der Ära Kreisky. Man stelle sich vor eine Stadt unter der Stadt, ein Reservat für den Wohlfahrtsstaat, dessen Konservierung im größten Interesse der Frau Nesterval lag. Wie lebendige Relikte ausgehoben, werden die Überlebenden vorübergehend in die sogenannte "Arena" gebracht. Ratlos steht der Nesterval-Fonds vor der Frage, wie es mit dem roten Restbestand weitergehen soll. Völlig isoliert lebten diese untergegangen Individuen Jahrzehnte im Ideal der Sozialdemokratie und wurden nun durch Bauarbeiten zu Tage befördert und noch vor dem ersten, möglicherweise vernichtenden Kulturschock in ein Refugium gebracht. Es liegt auf der Hand, dass eine Konfrontation mit der Lebensrealität eines Wiens im Jahr 2021 völlig niederschmetternd für diese Menschen sein könnte. Wäre eine Resozialisation (bzw. Desozialisation) überhaupt denkbar?

Ein Kunstgriff der Improvisation und Adaption

Im digitalisierten Interaktionsraum wird man als Zuschauer*in in eine Kommission berufen, die sich ein Bild über die Konstitution der Kreisky’sch gefärbten Überlebenden machen soll, um dadurch auch aktiv die Wendung ihres Schicksals zu beeinflussen. Keine leichte Aufgabe für Ideologie-Kritiker*innen, Moral-Verfechter*innen und Zuschauer*innen, die sich vielleicht nicht ganz im partizipatorischen Moment wohlfühlen. Doch die Führung des digitalen Subjekts durch das Immersionsspiel gelingt den Darsteller*innen des Nesterval-Kollektivs mit Leichtigkeit. Es ist die Kunst der Improvisation und der Adaption, die das Ensemble erneut ein Out-Of-The-Box-Erlebnis entstehen lässt. Unter Regie von Herrn Finnland findet man sich als Teil eines Events, das sogar in Zeiten wie diesen, einen Zugang in Alternativ-Welten ermöglicht, um Vergessen in Erinnerung zu wandeln.

Kein Grenzgang auf Distanz

Und doch darf bei all der Anerkennung der improvisatorischen Künste des Nesterval-Teams auch ein Hauch wehender Nostalgie Erwähnung finden. Man braucht nicht leugnen, dass die digitale Inszenierung keinen Raum gönnen konnte, für die sonst so berauschenden Furore der Nesterval-Aufführungen. Auch wenn die Tiefe der Immersion der Schauspieler*innen in das Stück vernehmbar war, so konnte die ekstatische Höhe ihrer bisherigen performativen Abenteuer nicht erreicht werden. Nesterval erlebt sich überall und das lustvolle Spiel braucht alle Sinne. Der Grenzgang gelingt schwer im Virtuellen. Trotz kreativem Umgang mit Film, Live-Übertragung und performativem Theater sitzt man zuletzt vor dem Bildschirm. In Erinnerung an vergangene Ekstasen im Kreis der Familie Nesterval verbleiben wir in Vorfreude auf zukünftige Entführungen in sonderbare Orte. Solang die Körper als handlungsleitende Instanzen noch Distanz wahren müssen, bietet Goodbye Kreisky nicht nur willkommene Abwechslung, sondern auch das wohl bewegendste Zoom-Meeting des noch jungen Jahres 2021. //

Text: Greta Kogler
Fotos: Lorenz Tröbinger für Nesterval

 Online via Zoom Termine 2021

brut Wien
4. und 5. Februar, 8. und 9. Februar, jeweils 19 Uhr

Gylaax Goodbye Kreisky

Goodbye Kreisky Online via Zoom

Goodbye Kreisky Cast

Sabine Anders, Eva Billisich, Rita Brandneulinger, Gellert Gerson Butter, David Demofike, Cuqui Espinoza, Andreas Fleck, Julia Fuchs, Nicole Gerfertz, Laura Hermann, Miriam Hie, Peter Hörmanseder, Romy Hrubeš, Niklas-Sven Kerck, Astôn Matters, Willy Mutzenpachner, Pamina Puls, Josef Rabitsch, Andy Reiter, Johannes Scheutz, Michaela Schmidlechner, Chiara Seide, Claudia Six, Simon Stockinger, Alexandra Thompson, Alkis Vlassakakis, Martin Walanka, Christopher Wurmdobler

Goodbye Kreisky Leading Team

Regie Herr Finnland
Buch Frau Löfberg
Produktion Emilie Kleinszig
Film Lorenz Tröbinger
Filmproduktion Sabine Anders
Dramaturgie Andi Fleck
Choreografie Jerôme Knols
Kostüm Andy Reiter
Requisite Willy Mutzenpachner
Setdesign Andrea Konrad
Sounddesign Alkis Vlassakakis, Josef Rabitsch

Eine Koproduktion von Nesterval und brut Wien.