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Ein falscher Sohn ist besser als gar kein Sohn 

Bacha posh. So nennt man in Afghanistan Mädchen, die als Jungen aufwachsen. Sie müssen ihre Stimme verstellen, bekommen die Haare geschoren, sie tragen Jungenkleidung. Dadurch bekommt die Familie viele Vorteile. So kann die Mutter in Begleitung mit ihrem falschen Sohn das Haus verlassen und die Familie als Ganzes genießt besseres Ansehen. Doch auch für die Mädchen wird das Leben leichter. Sie können jetzt in die Schule gehen, draußen auf der Straße mit anderen Kindern spielen, Drachen steigen lassen, auf Bäume klettern, kurz, alles das, was für uns Selbstverständlichkeiten sind. Eines dieser Mädchen ist Samira. In Kapiteln eingeteilt erzählt sie ihre Geschichte und spricht von Verlust, Flucht und schließlich auch Hoffnung auf ein neues, freies Leben. Auf drei Seiten sitzt das Publikum um einen Käfig aus Stahl, der als Fußballfeld, Gefängnis und Fluchtwagen gleichzeitig fungiert. Was ich besonders beeindruckend fand, ist, dass dieser Käfig auch noch als eine Art Sound-Installation (Ton: Andreas Nagl) dient. Jedes Mal, wenn die Schauspielerin (Alev Irmak) das Stahlgitter berührt erklingen verschiedenen Töne. Ein besonders tolles Detail ist mir aufgefallen, als Samir/Samira in Europa, konkret in Griechenland, angekommen ist. Sie hat kein Geld und muss sich von Müll ernähren. Sie hat keine Unterkunft und schläft auf der Straße. Als sie hier den Käfig berührt erklingt Beethovens 9. Sinfonie, die 1985 vom Europarat zur offiziellen Europahymne erklärt wurde. Insgesamt arbeitet das Stück sehr viel mit Ton. Immer wieder hört man aus im Raum verteilten Lautsprechern Fragen von Kindern wie "Vermisst du deine Familie?" oder "Willst du später mal heiraten?".

Wie sich ein Mädchen fühlt, das 14 Jahre lang als Junge aufwächst

So entsteht eine Nähe zum Publikum. Diese Nähe wird dadurch verstärkt, dass die Schauspielerin immer wieder die vierte Wand durchbricht. Die Kinder können aktiv am Stück teilnehmen, indem sie mit Samira Fußballspielen. An einer anderen Stelle fragt Samira, wie es eigentlich so ist ein Mädchen in Österreich zu sein. Abgesehen von dem Thema Flüchten behandelt das Stück auch das Thema Gender. Wie fühlt sich ein Mädchen, das 14 Jahre lang als Junge aufwächst und behandelt wird. Was macht das mit der Psyche des Einzelnen, wenn man 14 Jahre lang frei war, alles machen konnte was man wollte und plötzlich zu Hause eingesperrt wird?

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Selbstverständlichkeiten sind anderswo unmöglich

Samira entscheidet sich schlussendlich dafür eine Frau zu sein, denn hier in Österreich hat sie auch als Frau die Rechte eines Mannes. Mir hat das Stück unglaublich gut gefallen. Es greift politische und gesellschaftliche Themen auf ohne wie ein Lehrstück zu wirken. Das Stück setzt sich aus verschiedenen Fluchtgeschichten zusammen und wurde mit dem Thema der bacha posh verwoben. Es gibt keine Lösungen zu den behandelten Problemen, was gar nicht schlimm ist, ganz im Gegenteil. Dadurch werden Impulse gesetzt, die zur stärkeren Auseinandersetzung führen. Ich selber bin bewusster und reflektierter nach Hause gegangen. Auf dem Weg zur U-Bahn, musste ich immer wieder darüber nachdenken, dass diese simple Tätigkeit für Frauen in Afghanistan eine Unmöglichkeit darstellt. Dinge, die für westliche Frauen selbstverständlich sind, wie Bildung oder etwas so Banales wie jemanden in die Augen schauen zu können, sind für Mädchen und Frauen in anderen Ländern unmöglich. // 

Text: Lisa Klugmayer
Kritik zur Aufführung im Dschungel Wien am 29. April 2017 

Kurz-Infos:
Die Geschichte eines Jungen aus Afghanistan
Altersempfehlung: 9+
Sprechtheater mit Soundinstallation
Dauer: 60 Minuten 

Regie und Text: Flo Staffelmayr
Darstellerin: Alev Irmak
Sound: Julia Meinx
Bühnenbild: Paola Uxa
Theaterpädagogik: Christina Rauchbauer
Produktionsleitung: Agnes Zenker
Regieassistenz: Nina Alarcon
Bühnenbildassistenz: Alisa Mozigemba
Alle Fotos: Pablo Leiva