Steve Reich, HK Gruber und die Rolle des Dirigenten

Kristjan Järvi, der Chefdirigent vom Tonkünstlerorchester NÖ, über die erstmalige Aufführung von Steve Reichs "Desert Music" am 7. Oktober 2006 in Österreich, die im Festspielhaus St. Pölten anläßlich des 70. Geburtstags von Steve Reich über die Bühne gehen wird. Dies war aber nicht der einzige Grund ein Interview mit Kristjan Järvi zu führen, denn schließlich veröffentlichte das Tonkünstlerorchester NÖ soeben auch die audiophile hybride SACD "Zeitstimmung" des Komponisten HK Gruber, der sich dabei auch als Chansonnier von H.C.Artmann-Texten betätigt.

Desert Music

"Es ist ein Prinzip in der Musik, das Thema zu wiederholen. Wiederholen und abermals wiederholen, in gesteigertem Tempo. Das Thema ist schwer - aber nicht schwerer als die Tatsachen, die es aufzulösen gilt." Diese Textpassage des amerikanischen Lyrikers William Carlos Williams (1883–1963), die in der exakten Mitte der "Desert Music" vom Chor intoniert wird, ist bezeichnend für die Ästhetik des amerikanischen Komponisten Steve Reich. Er gilt als einer der Hauptvertreter der so genannten "Minimal Music", einer Musikrichtung, die in den 1960er Jahren an der amerikanischen Westküste kreiert wurde. Kennzeichnend für die Minimal Music ist die radikale Abkehr von der europäischen Avantgarde zugunsten einer starken Vereinfachung aller musikalischer Ebenen. Minimal Music ist fast immer auf klare tonale Felder beschränkt, innerhalb derer sehr langsame Entwicklungen stattfinden. Durch Repetition kleiner Elemente ergeben sich Klangmuster, die in ihrer Beharrlichkeit zu meditativen, manchmal gar hypnotischen Wirkungen führen. In den 1960er und 1970er Jahren traf die Minimal Music vor allem in Nordamerika einen Nerv der Zeit, weswegen Reichs Musik, begünstigt durch ihre leichte Hörbarkeit und Nähe zu manchen Charakteristika der Popmusik, ausgesprochen erfolgreich wurde.

Die tonale Klarheit und formale Vorhersehbarkeit lässt sich gleich zu Beginn der "Desert Music" gut erleben. Diatonische Klänge werden, eingespannt in ein Netz aus regelmäßigen, raschen Pulsationen, eingeführt und wieder ausgeblendet. Unwillkürlich stellt sich der Eindruck von Sich-Nähern und Sich-wieder-Entfernen ein, in stets ganz weichem, kontinuierlichem Übergang, so wie Wellen am Meer gegen den Strand branden und sich wieder zurückziehen. Bemerkenswert ist, dass diese Staffelung schöner Klänge, die einander abwechseln, nicht mechanisch wirken, sondern trotz ihrer Vorhersehbarkeit lebendig bleiben. Reich erzielt das durch eine raffinierte, fast unmerkliche Veränderung der einzelnen Wellenlängen. Es kommt kaum vor, dass zwei aufeinanderfolgende Wellen exakt gleich lang sind. Nach einiger Zeit verebbt dieser Teil, um einem rhythmischen Muster der Violinen Platz zu machen. In dieser Melodie wird deutlich, dass Steve Reich ausgebildeter Schlagzeuger ist. Im quicklebendigen Wechsel zwischen betonten und unbetonten Taktzeiten tragen die Violinen – zunächst nur zwei, dann immer mehr, so ähnlich wie bei einem klassischen Kanon - kurze Klangmuster vor, die sich ineinander verzahnen, dabei aber den klar abgesteckten harmonischen Raum nicht verlassen. Jede Gruppe der Violinen spielt ihr eigenes, rhythmisch markantes Modell, in ihrer wechselseitigen Überlagerung ergibt sich aber auch eine durchlaufende Schicht pulsierender Achtel - ein Effekt, den Steve Reich 1970 in Ghana an traditioneller afrikanischer Trommelmusik studiert und für seine eigenen Kompositionen adaptiert hat. Zu dieser raschen quasi-afrikanischen Quasi-Trommelmusik der Violinen singt der Chor in einem viel langsameren, choralartigen Tempo, bevor der Satz wieder zu den Wellenverläufen des Beginns zurückkehrt.  

Ohne Pause oder Übergang folgt der zweite Satz. Im Kontext der kontinuierlichen Entwicklungen wirkt der plötzliche Klangwechsel beinahe schockierend, wenn kurze Akkorde der Stabspiele und Klaviere zum hymnischen Einsatz des Männerchors hinleiten, der von der Ambivalenz zwischen Hören und Denken singt. Ein flinker Teil der vier Flöten und Pauken steht im Zusammenhang mit dem Text, der von Flöten und Trommeln berichtet. Nach einer kurzen Reminiszenz an die Wellenbewegungen des 1. Satzes schließt auch dieser 2. Satz mit einer Reprise seines ersten Teils. Der dritte Satz ist das zentrale Herzstück der "Desert Music". In ihm kommt eine bekenntnishafte Passage aus Williams Lyrik zur Vertonung, die Steve Reich besonders am Herzen lag und an deren adäquater Vertonung er lange arbeitete. "Die Dichtung Dr. Williams' habe ich seit dem 16. Lebensjahr geliebt, seitdem ich ein Exemplar seines langen Gedichts 'Paterson' aufschnappte, nur weil ich von der Symmetrie seines Namens - William Carlos Williams - fasziniert war. Bis heute habe ich nicht aufgehört, seine Werke zu lesen. Dr. Williams’ schönstes Werk, finde ich, ist seine späte Dichtung, die er zwischen 1954 und seinem Tode im Jahr 1963, im Alter von 80 Jahren, geschrieben hat. Aus dieser Epoche seines dichterischen Wirkens habe ich auch die Texte für "Desert Music" ausgesucht - eine Epoche, die nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki kam. Dr. Williams war sich in höchstem Grade der Bombe bewusst, seine Worte darüber in einem Gedicht über die Musik mit dem Titel "The Orchestra" kamen mir treffend vor: "Sage ihnen: Bisher hat der Mensch überlebt weil er zu unwissend war, um zu wissen, wie seine Wünsche zu verwirklichen wären. Nun, da er sie verwirklichen kann, muss er sie entweder ändern, oder zugrunde gehen." Auf diese Textstelle, deren Pathos zu der vitalen Energie der Musik in interessanter Opposition steht,  folgt die bereits eingangs erwähnte, sehr virtuos vertonte Stelle "it is a principle of music to repeat the theme", die man fast als musikalisches Selbstportrait des Komponisten bezeichnen kann. Verhältnismäßig abrupt und durch Glissandi der Bratschen eingeleitet, die explizit an Sirenen erinnern sollen, kehrt auch dieser zentrale und umfangreichste dritte Satz wieder zu seinem ersten Teil zurück, erneut über dem Text "Sage ihnen: Bisher hat der Mensch überlebt...".   Einfache Reprisenformen wie diese finden nicht nur innerhalb der einzelnen Sätze der "Desert Music" Anwendung, sondern auch über die Sätze hinweg. So greift der 4. Satz das harmonische Gerüst, das Tempo und den Text des 2. Satzes auf, während der 5. Satz sich in Geschwindigkeit und Harmonik auf den 1. Satz bezieht. Auf diese Weise ist das Stück als eine große, brückenartige Form konzipiert. Die Musik kehrt wieder an den Punkt zurück, von dem sie ihren Ausgang genommen hatte. Man würde die "Desert Music" missverstehen, würde man ihr fünfmalig in fast gleicher Weise verwendetes formales Modell als Monotonie und Einfallslosigkeit abqualifizieren. Die Beschränkung ist zentraler Teil von Steve Reichs Ästhetik. Durch den Verzicht auf kompliziertere Modelle will er verhindern, dass der Hörer die Orientierung innerhalb seiner Musik verliert. "Ich bin an wahrnehmbaren Prozessen interessiert. Ich möchte den Verlauf des Prozesses in der Musik von Anfang bis Ende hören können. Um intensives und detailliertes Zuhören zu erleichtern, sollte ein musikalischer Prozess extrem graduell verlaufen. Einen graduellen musikalischen Prozess zu spielen oder zuhörend zu verfolgen, ist ähnlich wie: eine Schaukel in Bewegung setzen und beobachten, wie sie allmählich zum Stillstand kommt ... eine Sanduhr umdrehen und zuschauen, wie der Sand langsam zu Boden rinnt ... seine Füße am Meer in den Sand stecken und zuschauen, hören und fühlen, wie die Wellen sie langsam eingraben." //

Text und Interview: Manfred Horak
Foto: Franck Ferville