Dystopie und Utopie; Foto: pixabay

 Mitreisen in die Dystopie und Utopie ist erwünscht: Wir schreiben den 2. April 2040. Die Autorin dieser Zeilen ist 59 Jahre alt.

Wien, 02.04.2040: Dystopie


Ich bin auf dem Weg in die Redaktion. Wöchentlich kontrolliere ich die Produktion der redaktionellen Social Media Kanäle. Das Redaktionsprogramm postet automatisiert die Texte mit dem größten Aufregungspotential auf Social Media. Meine Aufgabe ist es, ab und an zu kontrollieren, ob die Empörungsspirale läuft. Die Zeit der langen Essays und tiefen Diskurse ist nicht vorbei. Es ist nur schwierig, sie in einen konstruktiven öffentlichen Diskurs zu bringen. Anspruch und Realität klaffen weit auseinander.

Die Nähe bleibt virtuell

Dystopie und Utopie 1Ich schaue auf meine Apple Watch und checke die Geodaten meiner Nichte. Ob sie in der Stadt ist? Fehlanzeige: Sie ist in Berlin. Wir videotelefonieren. Authentische Ansprache und Fürsorge sind heute ein wertvolles Gut. Die Nähe bleibt virtuell. Meine Nichte Arielle wurde im August 2018 geboren. Sensoren in ihren Windeln konnten die Daten ihres Geschäfts in Echtzeit an vier Menschen gleichzeitig senden. Arielle hat keinen festen Wohnsitz und keine feste Anstellung. Sie arbeitet projektbezogen, was meistens heißt, sie arbeitet gar nicht. Ein großer Teil der Beschäftigten hat in den letzten Jahren ihren Job verloren. Das x-te Bachelor-Studium überbrückt die Zeit der Untätigen und bindet sie doch an keinen Ort: Die Lehrveranstaltungen werden gestreamt.

Alles ist heute ein Projekt

"Es gibt kein richtiges Leben in den falschen Daten", sagt Arielle auf die Frage, wie es ihr geht. Ich bin mir nicht sicher, was ich darauf antworten soll. Wir reden von ihrem Hund, den vermisst sie. Vom Grundeinkommen kann Arielle kaum leben, zum Glück hat ihr Vater gespart. Wo es ihr möglich ist, bezahlt sie ohnehin in Daten. Arielle besitzt wenig, ihre Generation feiert sich dafür. Ihr Leben besteht aus einem Lizenzpaket von Google aus verschiedenen Modulen: Bildung, Unterhaltung, Kultur. Die Inhalte sind stets gleich, aber, immerhin, die Module sind individuell kombinierbar. Eigentlich wollte meine Nichte Kindergärtnerin werden, aber Projektmanagerinnen sind heute gefragt und alles ist heute ein Projekt. Neben ihrem Bachelor für Immobilienbewertung betreut Arielle das Projekt Molly, die Tochter eines jener Paare, "die es zu etwas gebracht haben". Oder war es die Katze?

Wir haben ja nichts mehr zu verbergen

In drei verschiedenen Städten hat meine Nichte ein Co-Living-Space gemietet, frei und unverbindlich. Ich erinnere sie daran: Auch in meinem Wohnblock kann sie sich für das Gäste-Zimmer eintragen, die Zahnbürste kann sie sich jederzeit ausdrucken! "Bald komme ich", sagt Arielle. "Pass gut auf dich auf", sage ich zum Abschied. "Was soll schon passieren, allein am Stadtrand in der Dunkelheit", antwortet sie. Sie hat recht: Die Kriminalitätsraten sind stark gesunken. Jedes abweichende Verhalten ist auffällig und wird registriert. Lückenlose Überwachung macht sich ja doch bezahlt! Ob die Daten über ihre Windel-Geschäfte aus 2018 noch irgendwo gespeichert sind? Vermutlich. Ob sie in ihrem Lebenslauf landen? Sicher nicht. Das ginge doch wirklich zu weit! Andererseits. Wir haben ja nichts mehr zu verbergen.

Wien, 02.04.2040: Utopie


Ich bin auf dem Weg in die Redaktion. Wöchentlich kontrolliere ich die automatisierten Vorgänge. Algorithmen formen die Website, passend zu den aktuellen Themen. Sie bündeln Essays aus der Anfangszeit bis heute. Als Redakteurin greife ich da ein, wo die Maschine unsauber arbeitet und ergänze den Content um aktuelle Debatten. Mein Vater, hochbetagt, ruft mich an. Zuerst will ich den Anruf wegwischen, immerhin synchronisieren sich seine Gesundheitsdaten auf meiner Smartwatch und ich sehe, dass alles in Ordnung ist. Aber dann akzeptiere ich den Call. Er sei einkaufen gewesen, erzählt er und meint doch nur schauen: Was er benötigt, bekommt er geliefert, sein Leben ist ein vollautomatisierter Prozess und Smart Living Teil seines Alltags. Der Kühlschrank kontrolliert seine Blutwerte und passt die wöchentliche Lebensmittel-Liste an. Die Haushaltsroboter sorgen für Sauberkeit. Manchmal ist mein Vater ein Scherzbold und montiert die Hauspatschen auf dem Saugroboter und lässt sie durch die Wohnung reiten.

Der neue Humanismus

Dystopie und Utopie 2Meine Nichte Arielle wäre in der Stadt, erzählt mein Vater. Sie wurde im August 2018 geboren. Heute ist sie 22 Jahre alt. Sie ist Kindergärtnerin geworden, ein angesehener Beruf mit vielen Boni. Nur die Besten können das erreichen. Morgen geht er wieder zur Kontrolle zur Hausärztin, erzählt mein Vater und übermorgen zu seiner Philosophin. Beide Termine schätzt er sehr, beide tun ihm gut. Ob ich mich noch erinnere, fragt er unvermittelt, wie er nach der Rücken-Operation sich am Wienerberg anstellen musste? Er meint die Gebietskrankenkasse, Chefarztbewilligungen, Wartezeiten ohne Ende, Massenabfertigung. Diese Zeiten sind perdu. Eine App koordiniert heute die Arzttermine und gibt meinem Vater Bescheid, wann er von seinem eingetragenen Standort losgehen muss, um den Timeslot ideal zu nutzen. Die Organisation der Arztpraxen läuft automatisiert. Die Ärztin kümmert sich ausschließlich um den Patienten. Wir wundern uns, wie das je anders sein konnte. "Der neue Humanismus" titeln die Gazetten.

Manche Dinge ändern sich nie

Ob meine Großmutter, im Roten Wien der 1920er Jahre, sich einst träumen hätte lassen, dass es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt, von dem es sich leben lässt? Dass Arbeit heute etwas geworden ist, das Menschen tun, weil sie es als sinnstiftend erleben? Und dass ihr Sohn, das Arbeiterkind, mittwochs zur Philosophin geht, weil ihn das geistig fit hält? "Die Esterhazy-Schnitten" sagt mein Vater und klingt ungeduldig. Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. "Esterhazy-Schnitten?", frage ich. Der Kühlschrank würde für sonntags immer Cremeschnitten bestellen, wiederholt mein Vater, er möchte aber Esterhazy-Schnitten. Ob ich vielleicht vorbeikommen könne, um ihm den Kühlschrank neu einzustellen? Und bei der Gelegenheit auch gleich den Staubsaugerroboter updaten? "Sicher, Papa", seufze ich. Manche Dinge ändern sich nie. //

Text: Anne Aschenbrenner
Fotos und Collage: pixabay
Der Artikel erschien in leicht geänderter Fassung und mit anderen Illustrationen erstmals in Die Furche.