dylan-tempestWas darf man sich von einem Bob Dylan Album mit neuen Songs anno 2012, also 50 Jahre nach seinem Debüt-Album, erwarten? Sein 35. Studio-Album trägt den Titel "Tempest", erinnert von daher (allerdings unter Verzicht des bestimmenden Artikels) an das letzte Werk von William Shakespeare, und hat, wie die meisten Dylan-Alben, keinen monothematischen Handlungsstrang.

Zehn Songs, die einem Drama gleich, durchaus als entworfene Modelle einer humanen Daseinsform mit der Relativierung poetischer Phantasie daherkommen, jedoch nicht wie bei "The Tempest" von W. Shakespeare den Sinn des Lebens in Frage stellen, sondern eher Gleichungen aufwerfen: Gleichungen von Erscheinung und Sein bis hin zu Gleichungen vom gesellschaftlichen Stand und Moralität. Aber es gibt freilich auch noch andere Bezugspunkte. Möglicherweise arbeitet Dylan an seiner ureigenen "Anthology of American Folk Music", wenn er uns seine Balladen und Blues, Ragtime und Vaudeville, Swing und Walzer, Country und Folk serviert. All das bildet nämlich den musikalischen Nährstoff der zehn neuen Songs - Dylan gräbt dort weiter, wo er mit seinen "Theme Time Radio Hour Shows" Anekdoten erzählte und führt sein Alterswerk fort, das er mit den letzten vier Alben "Time Out Of Mind" (1997), ""Love & Theft"" (2001), "Modern Times" (2006) und "Together Through Life" (2009) begann [Dylans Weihnachtsalbum "Christmas in the Heart" von 2009 lasse ich mal außen vor; Anm.]. So, und jetzt betrachten wir "Tempest" mal Stückweise, also Song für Song.

Duquesne Whistle

"The lights of my native land are glowing/ I wonder if they'll know me next time around", heißt es im hervorragenden Einstiegssong "Duquesne Whistle", das einem, ähnlich wie "Love Sick" auf "Time Out Of Mind", in das Album förmlich hineinzieht. "Duquesne Whistle" beginnt mit einem 42 Sekunden langen filmreifen Intro, in den darauf folgenden fünf Minuten hört man einen unglaublich unermüdlichen Walking Bass und eine wimmernde Orgel, die im Zentrum dieser fast schon vergnüglich wirkenden Ragtime-Blueslicks stehen. Aber wie so oft bei Dylan ist das nur die Oberfläche. Darunter, wenn man so will, bläst es ordentlich, "like it's gonna sweep my world away"; und auch im dazu gehörenden Video unter der Regie von Nash Edgerton geht es ein paar Gangarten härter zu als man es vom musikalischen Ausdruck her vermuten möchte. Das Slapstick-Szenario eines verliebten Jungen weicht einer schockierenden Brutalität.


Soon After Midnight

Der zweite Song des Albums kommt recht altersmilde daher; "It's soon after Midnight/ and my day has just begun", singt Dylan in Crooner-Manier zu einer lieblichen Herz-Schmerz-Gefühl-Melodie. Man spürt, er hat schon alles gesehen und erlebt, hat aber bei weitem noch nicht genug, vor allem nicht VON der Liebe und darum singt er auch ÜBER die Liebe und nicht zuletzt Textzeilen wie "I'm searching for phrases/ To sing your praises".

Narrow Way

In "Narrow Way" rumpelt sich Dylan siebeneinhalb Minuten durch den obligatorischen (und noch am ehesten verzichtbaren) Road-Blues. Subjektiv empfunden der einzige Schwachpunkt des Albums.

Long and Wasted Years

Aus einer längst vergangenen (wenn nicht untergegangenen) Zeit scheint das hymnische "Long and Wasted Years" zu sein. "It's been such a long long time/ since we loved each other and our hearts were true", singt Dylan da, und: "one time, for one brief day, i was the man for you/ last night i heard you talkin in your sleep/ saying things you shouldn't say, oh baby/ you just may have to go to jail someday". Dylan ist hier kein Sänger, sondern zunächst ein herausfordernder, überheblicher Rezitator, der im Laufe des Songs eine Wendung vollzieht, wenn die Hauptfigur ihr sagt, "if i hurt your feelings, i apologize [...] you don't have to go, i just came to you because you're a friend of mine/ i think that when my back was turned,/ the whole world behind me burned". Dieser Song hätte auch schon sehr gut in das zertrümmerte Land und zu den desillusionierten Menschen in Dylans Kinofilm "Masked & Anonymous" gepasst. In diesem Film wird der abgehalfterte Star Jack Fate, den Bob Dylan verkörpert, ja aus dem Knast geholt während die Welt um ihn herum immer weiter zerfällt.

Pay in Blood

Shakespeare schuf in "The Tempest" ein Reich der Phantasie, eine Insel im Nirgendwo und einer der Hauptfiguren, Prospero, strandet nach der Suche der Menschlichkeit auf eben dieser Insel und gleichzeitig will er den Figuren seines Lebens für ihre Verbrechen zur Verantwortung ziehen. Dylan singt indessen in "Pay in Blood" "Ich zahle mit Blut - und zwar nicht mit meinem eigenen", und begibt sich dabei musikalisch auf Motown-Pfaden. Um die eingangs gestellte Frage was man sich denn von einem Dylan-Album anno 2012 erwarten dürfe, endlich zu beantworten: "Tempest" ist kein Album für junge Menschen, aber ein Album für junge Menschen darf man sich von einem Bob Dylan Album mit neuen Songs anno 2012, also 50 Jahre nach seinem Debüt-Album, eigentlich eh nicht mehr erwarten, der Mann ist immerhin 70+.

Scarlet Town

Das Folk-Traditional "Barbara Allen" (Child Ballad 84) aus Mitte 17. Jahrhundert, das 1855 von Theodor Fontane eine erste deutsche Nachdichtung erhielt ist Ausgangspunkt von Dylans "Scarlet Town". Dylan übernahm davon lediglich die erste Textzeile ("In Scarlet town where I was born"); den Song "Barbara Allen" spielte er bereits Ende 1962 bei einem Auftritt im Gaslight Café (New York). An einer Stelle in "Scarlet Town" heißt es "love is a sin and beauty is a crime/ All things are beautiful in their time/ The black and the white, the yellow and the brown/ It's all up there for you in Scarlet Town" und er grummelt aber auch "Help comes/ but it comes too late". Irgendwie kein Wunder, denn "Uncle Tom is still working for Uncle Bill". Der Shakespearsche Sturm, der Offenbarungen und Visionen für jene bereit hält, die mit dem Herzen sehen können, findet also, wie bereits im Frühwerk Dylans (wie z.B. in "Chimes of Freedom"), auch in diesem Spätwerk Einzug. Wobei die Offenbarungen und Visionen fast ausnahmslos von Dunkelheit und Blut gefüllt sind. Es scheint, als warte die Apokalypse bereits an der nächsten Straßenecke und für den letzten Schritt helfe nur religiöse Demut.

Early Roman Kings

"Mannish" Boy von McKinley Morganfield, Mel London und Ellas McDaniel (die Erstaufnahme stammt von Muddy Waters aus dem Jahr 1955) ist die musikalische Referenz in "Early Roman Kings". Die Muddy Waters Aufnahmen zählen ganz klar zu den All-Time-Blues-Klassikern und das Lied selbst wurde zu den "500 Songs that Shaped Rock and Roll" gekürt und dementsprechend in die diversen Hall-of-Fames gewählt. Dylan schuf auf Grundlage dessen große Vexierbilder und lässt uns wissen "I ain't dead yet/ My bell still rings/ I keep my fingers crossed/ Like them early roman kings" und nicht zuletzt tagt das hohe Gericht in Sizilien. Immer wieder liest man, die Wahrheit sei konkret, bei Dylans Texten empfindet man die Wahrheit eher wie eine kosmische Rotlichtverschiebung, je nachdem, aus welcher Perspektive man den Inhalt betrachtet.

Tin Angel

Bei "Tin Angel" handelt es sich nicht um den gleichnamigen Song von Joni Mitchell aus ihrem zweiten Album "Clouds" (1969) über die Erinnerungen an eine vergangene Liebe, die jemand anderen mit einer traurigen Seele wie der eigenen findet. Der Blechengel hier ist ein Dylan-Original, episch wie eine griechische Tragödie ausgebreitet über spartanisch instrumentierte neun Minuten, und erneut ist die Apokalypse spürbar. Am Anfang war die Eifersucht, am Ende steht der Tod, an allem schuld ist eigentlich eh nur die Liebe. Eine echte Mörderballade also.

Tempest

Das Titelstück ist, alleine von der Länge her (13 Minuten 54 Sekunden) das Herzstück und zugleich neben "Tin Angel" das zweite Epos des Albums. Gespielt wird im Walzertakt. Einen Walzer hörten ja angeblich auch die bis dahin überlebenden Passagiere auf der Titanic, bevor das unsinkbare Schiff in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 in den Fluten verschwand. In 45 Strophen erzählt Dylan von diesem Ereignis in größtmöglicher literarischer Freiheit, denn "ein Songwriter kümmert sich nicht um die Wahrheit", wie uns Mr. Zimmermann ausrichten lässt (womit wir eigentlich erneut bei der konkreten Wahrheit und der kosmischen Rotlichtverschiebung wären. Na, sei’s drum).

Roll On John

Der Rauswerfer aus dem Album wiederum ist neben "Long and Wasted Years" die zweite Hymne auf "Tempest". The Beatles Kenner wissen sofort, wer damit gemeint ist, wenn Dylan singt, "I heard the news today, oh boy!": John Lennon. Zeitenblende. In einer der unzähligen Dylan-Biografien gibt es die Theorie, dass Dylans Song "Lenny Bruce" aus dem bis heute sträflich unterschätzten Album "Shot of Love" (1981) möglicherweise auch an Mr. Lennon adressiert war. Anstoß der Theorie sind Textzeilen wie "I rode with him in a taxi once/ Only for a mile and a half, seemed like it took a couple of months/ Lenny Bruce moved on and like the ones that killed him, gone". Das wiederum geht auf zweierlei zurück: Erstens auf die Taxifahrt der beiden im Jahr 1966 und zweitens auf die Let them stay in the USA Kampagne während der Nixon-Ära. Dylan schrieb 1972 einen Brief an die Regierung mit der Bitte John Lennon und Yoko Ono nicht aus den Staaten auszuweisen, unter anderem schrieb Dylan, dass Lennon "help[ed] others to see pure light." Dieses Licht taucht nun auch wieder in "Roll On John" auf. "Shine Your Light" singt Dylan im Refrain, und: "Movin On/You burn so bright/Roll On John". Majestätisch.

Epilog

Oft hat man den Eindruck, als erfindet Dylan sich selbst eine Welt bzw. eine Art Konstruktionsidee davon, um den Antagonismus von Tragödie und Komödie aufzuheben mit Blick auf die Welt, nicht aber auf die Wirklichkeit selbst (bzw. konkrete Wahrheit; wir hatten das schon). "Tempest" ist vielleicht auch so etwas wie eine Vision von einem humanen Ausgleich, den Verzicht auf Rache und die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit. In jedem Fall ist es ein Album, das zum Nachdenken anregt und zum literarischen Stöbern einlädt - bei Dylans eigener literarischer Vergangenheit ebenso wie bei anderen großen Literaten der Weltgeschichte. Darüber hinaus ist es ganz einfach ein weiteres verdammt gutes Album von Bob Dylan, dem hoffentlich nächsten Nobelpreisträger für Literatur. //

Text: Manfred Horak

CD-Tipp:
Bob Dylan: Tempest
Musik: @@@@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: Columbia/Sony (2012)

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