Jetzt, nachdem der letzte Ball versenkt wurde, bleibt wieder reichlich Zeit für wichtigeres, z.B. für das Jazzfest Wien, das bis 17. Juli 2008 die Bundeshauptstadt zu einer einzigen großen Konzertbühne macht.
Das Programm ist vielfältig, also bunt, und zum Teil sehr spektakulär. Große Namen sind 2008 ebenso wieder vertreten wie Rising Stars. Zudem widmet sich das Jazzfest Wien auch überraschend ausführlich der österreichischen Jazzszene. Die erste Juli-Woche ist traditioneller Weise die Jazz-Woche in der Wiener Staatsoper, diesmal mit Bobby McFerrin und Gästen wie Thomas Quasthoff (1.7.) und Gert Voss (2.7.), sowie Auftritte von Charles Lloyd Quartet und Abdullah Ibrahim (4.7.), Caetano Veloso (5.7.) und Roberta Flack (6.7.). Ja, und nicht zu vergessen einen der absoluten Höhepunkte des Festivals – Jazz hin, Jazz her – am 3.7. das Doppelkonzert mit Sinead O’Connor und Helen Schneider.
Ich habe viele musikalische Leben gelebt
Die Rocksängerin Helen Schneider wandelt längst schon auf intimen Gesangspfaden, interpretierte Weill/Brecht ebenso grandios ("Walk on the Weill Side", 1989) wie zuletzt Lieder von Dr. John, Bob Dylan, Leonard Cohen, Tom Waits u.v.m. zum Thema Frau-Sein ("Like a Woman", 2007). Das Zitat von Helen Schneider - "Ich habe viele musikalische Leben gelebt" - passt ebenso gut zu Sinead O’Connor, die eigentlich ein "normales, zurückgezogenes Leben" als Priesterin leben wollte, was der mittlerweile 4-fachen Mutter, die sich auch einmal outete, lesbisch zu sein, allerdings nicht glückte. Ihr verwirrendes Privatleben manifestiert sich mitunter auch bei ihren Veröffentlichungen - von irischen Traditionals und spirituellen Hymnen bis hin zum Reggae und wütenden Folk-Rock mit Punk-Attitüden und samtweichen Balladen reicht ihre Palette und da sie auch mal Operngesang studierte, passt der Auftrittsort natürlich hervorragend.
Ausfransungen gesitteter Swing-Nummern
Neben der Wiener Staatsoper ist auch die Wiener Kammeroper Aufführungsort vom Jazzfest Wien, am 8.7. gastiert Curtis Stigers und Joris Dudli CO-UP feat. Gisele Jackson, am 9.7. tönt das James Carter Quintet und Heinz v. Hermann "Straight Six" und am 10.7. gibt es das Bossa Nova Anniversary - Tribute to Antonio Carlos Jobim feat. Toninho Horta und dem Hans Salomon Quintet feat. Jacqueline Patricia zu hören.
Besonders empfehlenswert ist der Auftritt von James Carter, der mit "Present Tense" kürzlich ein beachtliches Album veröffentlichte. James Carter kann gesittete Swingnummern auf interessante Art ausfransen lassen, gerät überhaupt erst dann auf Betriebstemperatur, wenn die Noten vom Papier kullern und sich die Growl- und Soundeffekte majestätisch Platz machen.
Curtis Stigers hingegen polarisiert ziemlich, und die Jazz-Polizei lächelt milde über ihn (so wie halt viele die Jazz-Polizisten belächeln), tatsächlich bewegen sich seine Alben zwischen Smooth-Jazz, Easy-Swing und Jazz-Pop, oder, anders formuliert, er interpretiert anspruchsvolle Lieder auf sehr sensible Weise und gewinnt dabei fast immer.
Interessant und brasilianisch elegant ist sicherlich auch der Tribute-Abend "Bossa Nova Anniversary" mit einer All-Star Band um die Sängerin Maucha Adnet, die aus Granden wie Toninho Horta, Eddie Gomez, Claudio Rodito, Duduka Dafonesca und Helio Alves besteht, die auf höchst sublime Weise zwischen Jazz und Bossa changieren werden und solcherart dem großen Komponisten Antonio Carlos Jobim klingende Reverenz erweisen. Brasilianischen Smooth Jazz im zeitgenössischen Pop-Gewand und Lieder von Jobim gibt es auch am 15.7. im Wiener Konzerthaus mit Sergio Mendes zu hören. Mendes: "Man muss jeder Jugend die Liedkunst des Antonio Carlos Jobim nahe bringen. Seine raffiniert einfache Songarchitektur, seine sehnsüchtigen Melodien, die erstaunlich dauerhafte Frische seiner Musik. Seine Kunst verstehen Japaner, Amerikaner, ja sogar Österreicher. Ich bin stolz, ihn zum Freund gehabt zu haben."
Lebenszyklus der Wespen
Im Wiener Reigen heißt es am 7.7. Bühne frei für Yellowjackets & Mike Stern und die Präsentation des neuen Albums "Lifecycle". Mike Stern also. Der dreifache Grammy-Nominee gehört zu jener raren Spezies an Gitarristen, denen die Ehre zuteil wurde, in einer von Miles Davis` Formationen zupfen zu dürfen. Sterns Gitarrenarbeit geht seither an extreme Grenzen. Einerseits ist es ihm möglich interessante Lärmkaskaden in ausufernd expressiver Manier vom Gitarrenbrett zu hacken, andererseits liebt er die große Unmittelbarheit gehaltvoller, impressionistisch lackierter Sounds, die ihn als würdigen Interpreten in der lyrisch-introvertierten Wes-Montgomery- und Jim-Hall-Schule ausweisen. Und die Yellowjackets sind überhaupt eine Klasse für sich, egal ob die Band Worldbeats mit elektronischen Elementen zum Besten gab oder sich der Ästhetik des Akustikjazz hingeben. Innovative E-Bass-Exkursionen sind hingegen am 10.7. im Reigen zu hören, wenn sich Victor Wooten und seine Band auf die Bühne begeben. Mit "Soul Circus" veröffentlichte er zuletzt ein sehr lässiges Album mit Stargästen wie Bootsy Collins und Christian McBride. "Kaschanat" heißt es schließlich am 15.7. im Reigen. Eine weltmusikalische Spurensuche nach der Tradition in der Moderne verspricht dabei der Saxofonist Mike Ottis. Die Spurensuche beginnt an den gemeinsamen Wurzeln der Musiker des K & K Lebensraumes und mündet in einen einzigartigen Weltmusic-Sound zwischen Gipsy Jazz, Wiener Schmäh und Oriental Moods.
Wurschtsemmerln aus der Jazz-Werkstatt Wien
Jazz aus Österreich findet im Rahmen des Jazzfestes Wien auch im Bank Austria Kunstforum, im Porgy & Bess (Dhafer Youssef und Wolfgang Muthspiel!), im Jazzland (Chico Freeman und Fritz Pauer Trio!) und im Rathaus/Arkadenhof statt. Im Bank-Austria Kunstforum präsentiert die Jazz-Werkstatt Wien vier Ensembles, die ihr neues Programm vorstellen, so z.B. am 8.7. Bernd Satzinger’s Wurschtsemmerl - eine Formation, die viel verträgt und flexibel ist. So können da Eigenkompositionen, Improvisationen, gerocktes und gejazztes auf einen Text von H.C. Artmann oder eine Ballade von Charlie Haden treffen. Unbestimmt zielsicher, der Vorliebe zum Freien aber genauso auch Kitschigen Ausdruck verleihend, geht die Musik des Wurschtsemmerl ihren Weg durch eine Welt aus Wurst. Am 9.7. gastiert Clemens Wenger "Reset" im Bank Austria Kunstforum. Wenger: "Seit acht Jahren arbeite ich mit Herbert Pirker und Raphael Preuschl zusammen, mehr oder weniger als klassisches 'Klaviertrio'. Begonnen haben wir gemeinsam noch am Konservatorium, quasi mit Imitationen verschiedenster Jazzstilistiken. Dabei haben uns besonders die Musik von Thelonious Monk und Wayne Shorter beschäftigt. Werner Angerer begleitet tontechnisch seit vielen Jahren die Geschehnisse in der jungen Wiener Jazz- und Improvisationsszene. Als musikalischer und technischer Zuhörer und Akteur ist er ein wichtiges Mitglied dieser Band. Ein 'RESET' kann erforderlich sein, wenn ein System nicht mehr vorschriftsmäßig funktioniert und auf normale Eingaben nicht mehr reagiert. Für Computeruser mag das eher weniger wünschenswert sein, dieses Projekt erfährt dadurch einen Neustart und neue Inspiration."
Hoch interessant auch am 10.7. eben dort die Formation Salesny/Eberle/Riegler/Koch. Musikalisch bleibt das Ensemble seit Anbeginn des Bestehens der modernen Fanfare und nicht selten der experimentellen aber nicht weniger kraftvollen Eigendefinition dieser Spielweise treu. Erwartet werden dürfen heitere Signalfanfaren, strenge Jagdfanfaren, Einleitung zum Tanz, wilde Festsignale und verträumte Abendausklänge. Ein Muss für jeden Blasmusikliebhaber und Freund der freien Spielformen. Die vierte österreichische Formation im Bank Austria Kunstforum konzertiert am 11.7., Fuzz Noir. Fuzz Noir wurde 2004 von Wolfgang Schiftner, Raphael Preuschl, Michael Prowaznik und Peter Rom in Wien gegründet - mit der Intention eine Spielwiese für neue Ideen und Klangwelten zu schaffen.Das Quartett präsentiert eine sehr eigenständige, energiebetonte und emotional gehaltvolle Musik, die nicht nur für Jazz-Hörer interessant ist.
Cracked Anegg Label-Night und Jazz für Kinder
Bei freiem Eintritt gilt es am 13.7. im Rathaus/Arkadenhof das noch immer junge Label Cracked Anegg Records zu entdecken. Mit dabei: Gradischnig’s Ghost Trio, Angela Tröndle & Mosaik, Drechsler und die Car Radio Band. Zu Gehör kommen Inspirationen von Samuel Beckett (Gradischnig) und Rainer Maria Rilke (Tröndle) bis hin zu musikalischen Verbeugungen vor Funk, Ska, R&B der 1950er/60er Jahre (Car Radio Band) und HipHop (Drechsler). Am gleichen Tag, am selben Ort, nur halt schon nachmittags, spielt die Jakob Pocket Band "Jazz für Kinder" aus dem gleichnamigen und sehr empfehlenswerten Kinderbuch. Mit dabei Martin Schwanda als Erzähler, Marina Zettl (Gesang), Heimo Trixner (Gitarre) und Oliver Steger am Bass. Zum Inhalt: Carla entdeckt in einem Pavillon im Garten alte, verstaubte Instrumente. Die Instrumente können sprechen und erzählen ihr die spannende Geschichte des Jazz, wer die berühmten Interpreten sind - und sie spielen ihr das Lied "Bruder Jakob" in verschiedenen Versionen vor. Unglaublich gut. Höchste Empfehlung.
Lou Reeds Berlin im Wiener Gasometer
Tja, bleibt noch ein letzter Tipp übrig, Stichwort Lou Reed, denn auch er gastiert im Rahmen vom Jazzfest Wien in der Bundeshauptstadt, und zwar am 4. Juli im Gasometer. Live dargeboten wird das Album "Berlin" aus den frühen 1970er Jahren. Wer das Original-Album kennt, weiß, dass es ein sehr gutes ist, und auch die Live-Reminiszenz - so hört man von allen Seiten - soll mehr als formidabel sein. Einen Vorgeschmack dazu gibt es HIER.
(Text: Manfred Horak; Fotos: Daniel Domig, Jazz Fest Wien Archiv, Kvon)
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Jazzwerkstatt Wien