Junge oder Mädchen? Samir oder Samira? Freiheit oder Harām? "Die Geschichte eines Jungen aus Afghanistan" des Theaterkollektivs Ansicht stellt Fragen und liefert Antworten. Flo Staffelmayr, Autor und Regisseur des zuletzt im Dschungel Wien aufgeführten Stücks, erzählt nicht einfach von der Flucht aus einem Land - indem das Wort Emanzipation keine Bedeutung hat - sondern zeigt die Geschichte von einem Fußball spielenden Mädchens, das den Mut hat ihren Träumen zu folgen.

In Afghanistan ist es Mädchen nicht erlaubt auf der Straße zu spielen, in die Schule zu gehen oder Spaß zu haben

Ihren Fußball hat Samira unter den Arm geklemmt, als sie zu den anderen Jungs auf den Markt rennt. Die Trainingshose sitzt so tief auf ihrer Hüfte, dass die rot karierte Boxershorts hervorblitzt. Ihre langen schwarzen Haare hat sie unter einer Mütze versteckt. In Afghanistan ist es Mädchen nicht erlaubt auf der Straße zu spielen, in die Schule zu gehen oder Spaß zu haben, erzählt Samira. Ihre Eltern haben sie deshalb gefragt, ob sie lieber Samir sein möchte, schließlich sei es besser einen falschen Sohn zu haben als gar keinen Sohn, haben sie gesagt. Schauspielerin Alev Irmak steht in dem 60-minütigen Stück allein auf der Bühne und erzählt von aufregenden Kapiteln aus dem Leben der 14- jährigen Afghanin, die ihren eigenen Kopf hat und sich auf den Weg nach Europa macht, um diesen durchzusetzen.

Ein Mädchen, das sich nicht hinter einem Schleier verstecken will oder sich verbieten lässt auf Bäume zu klettern

In der Mitte des Bühnenraums stehen im Rechteck ausgerichtete Bauzäune. Rund herum sitzt das Publikum. Die Gitter aus Draht verwandeln sich in Samiras Geschichte zu Bäumen auf die sie klettert, Autos an die sie sich klammert, oder Hindernisse, die sie überwinden muss. Gleichzeitig sind die Gitter und Bauzäune Teil der genialen und mit dem Theaterpreis STELLA17 ausgezeichneten Soundinstallation von Klangkünstlerin Julia Meinx. In diesem kreativ genutzten Setting erzählt das Mädchen von tagelangen Überfahrten auf einem kleinen Schlauchboot, von Nächten im Gefängnis und Tagen ohne Wasser. Auch wenn es so klingt, zeigt Staffelmayr hier kein klassisches Flüchtlingsstück - aber auf jeden Fall politisches Theater. Die Figur auf der Bühne ist nicht an erster Stelle einer von vielen Menschen auf der Flucht. Sie ist Samira. "Die Geschichte eines Jungen aus Afghanistan" gibt den anonymisierten Flüchtlingsdiskussionen ein Gesicht. Ein Mädchen, das sich nicht hinter einem Schleier verstecken will oder sich verbieten lässt auf Bäume zu klettern. Das seine Heimat liebt, doch das Freisein noch mehr.

Politische Themen für ein junges Publikum ab neun Jahren in ein Theaterstück zu verpacken, ist eine Herausforderung

Nicht zu langatmig darf es sein. Verständlich und greifbar. Geschichte zum Anfassen eben. Was für viele Theaterschreiber mühselig wäre, sieht Flo Staffelmayr als riesige Chance. "Bei einem jungen Publikum hast du als Autor die Möglichkeit den ganzen Querschnitt zu erreichen. Die Schulklassen werden durch die Vorstellungen geschleust und du spielst nicht nur für die drei Prozent elitärer Theatergänger, die sich im Erwachsenenalter eine Eintrittskarte kaufen", so Staffelmayr. Dass eine Inszenierung mit politischer Aussage für junges und auch älteres Publikum spannender ist als die Berichterstattung der letzten Koalitionsgespräche in Deutschland, beweist einmal mehr das Team von Ansicht. //

Text: Kim Höbel
Fotos: Pablo Leiva

Die Geschichte eines Jungen aus Afghanistan 

Bewertung: @@@@

Kritik zur Wiederaufnahme im Dschungel Wien am 19.01.2018
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Spiellänge: 60 Minuten



Regie & Text: Flo Staffelmayr

Tonkonzept: Julia Meinx

Bühnenbild: Paola Uxa
Darstellerin: Alev Irmak

Theaterpädagogik: Christina Rauchbauer

Produktionsleitung: Agnes Zenker

Regieassistenz: Nina Alarcon

Bühnenbildassistenz: Alisa Mozigemba

Tontechnik: Andreas Nagl