bob-dylan-modern-times-2006Spannungsgeladen und intensiv. Atmosphärisch und paradox.

Als Mahatma Gandhi in London mit Charles Chaplin über die Bedeutung der Maschine für den Menschen diskutierte war Chaplins Plan seinen nächsten Film den modernen Zeiten zu widmen bereits gereift. Produktionsmaximierung, Rationalisierung und Automatisierung, Arbeitslosigkeit, Streik und Aussperrung, soziale Folgen der Fließbandarbeit, sowie Wohnungs- und Drogenprobleme thematisierte der große Filmemacher in diesem im Februar 1936 uraufgeführten Werk. Im selben Jahr - konkret am Samstag, 18. Juli 1936 - stand ein gewisser Cooney Vaughn irgendwo in Hattiesburg, Mississippi in einem Studio und spielte seinen "Working Man's Blues-1"* ein, und fünf Jahre zuvor - am 28. September 1931 - begab sich Charley Jordan in ein Chicagoer Studio, um ebenfalls einen "Workingman's Blues"* einzuspielen.

Zeitenwechsel

Am 29. August 2006 (in Europa bereits am 25.8.) veröffentlichte Bob Dylan [eigentlich Robert Zimmermann; der "Song and Dance-Man" tritt auch unter dem Pseudonym Jack Frost als Produzent in Erscheinung, und verwendete in früheren Jahren diverse Alias, wie z.B. Lucky Wilbury, Boo Wilbury, Blind Boy Grunt; Anm.] sein 31. Studioalbum (wenn man die "Basement Tapes" dazu rechnet, ist es sein 32. Studioalbum) mit dem Titel "Modern Times". Bestückt mit zehn Liedern handelt es auch von jenen Themen, die Charles Chaplin verarbeitete. So singt Dylan z.B. über das eklatant zunehmende Lohndumping in der Unterschicht - und zwar im Lied "Workingmans' Blues #2". Und überhaupt: Dylan geht seinen Weg der vorangegangenen Alben unbeirrt weiter. Nach den American Recordings von "Good As I Been To You" (1992) und "World Gone Wrong" (1993) mit all den alten Blues- und Folkballaden aus den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts, fuhr er auf "Time Out Of Mind" (1997), "'Love And Theft'" (2001) und fährt nun eben auf "Modern Times" mit Eigenmaterial fort, die eben so gut aus dieser längst untergegangenen Welt stammen könnten.

Die Fröhlichkeit ist ihm längst vergangen

"Lost John sittin' on a Railroad Track" singt Dylan ziemlich desillusioniert, musikalisch mit einer Herzschlagpauke versehen, auf dem bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgehende "Nettie Moore" (im Original heißt das Lied "Gentle Nettie Moore"), und, die Fröhlichkeit ist ihm längst vergangen, "the world has gone black before my eyes". Dylan schafft es einmal mehr eine geheimnisvolle Dichte in die Lieder zu bringen, am auffälligsten zunächst einmal in den ruhigen 'Salon'-Nummern, irgendwo pendelnd zwischen absurdem Jazz und Country-Musik bevor Nashville erfunden wurde. Über diese spannungsgeladene hoch intensive Musik schwebt die atmosphärische Stimme von Dylan. "Ain't Talkin'" und "Spirit on the Water" sind zwei weitere dieser gigantischen Lieder. Im ersteren singt er über einen mystischen Garten, der allerdings nicht gerade zum Verweilen einlädt, weil da offenbar einiges schief gelaufen ist, im zweiteren singt er über das Paradies, dessen Zutritt ihm verwehrt ist, obwohl er gerne mit seiner Geliebten hin ginge, nur blöderweise hat er dort einen Mann umgebracht. Überirdisch schöne Musik.

Before Rock'n'Roll

Ja, und dann gibt es noch die rauen Nummern des Albums: "Thunder on the Mountain", "Rollin' and Tumblin'" (einer Reverenz an Muddy Waters, dessen Lied wiederum sich an den "Roll and Tumble Blues" von Hambone Willie Newbern aus dem Jahr 1929 orientierte), "Someday Baby" und "The Levee's gonna break". Das letztgenannte handelt vom Dammbruch in New Orleans und bezieht sich auf den am 18. Juni 1929 in NY City eingespielten Blues "When the Levee breaks" von Memphis Minnie (eigentlich Lizzie Douglas) & Kansas Joe [eigentlich Joe McCoy; der Ehemann von Memphis Minnie trat noch unter weiteren Pseudonymen als Musiker in Erscheinung, z.B. als Georgia Pine Boy, Big Joe, Hallelujah Joe, Mud Dauber Joe, Mississippi Mudder und Hamfoot Ham; Anm.]*.

In diesen Liedern werden die E-Gitarren ordentlich unter Strom gesetzt, es wird geshuffelt und gerockt, was das Zeugs hält, mit allen erdenklichen Kanten und Grobheiten. Gerockt wie Chuck Berry, before Rock'n'Roll, wohlgemerkt. Die exzellent agierende Band mit Tony Garnier (Bass, Cello), George G. Receli (Drums, Percussion), Stu Kimball und Denny Freeman (beide Gitarre), sowie Donnie Herron (Steel Gitarre, Geige, Violine, Mandoline) scheint jedenfalls wie geschaffen zu sein mit Bob Dylan den Weg zu gehen, Musik, die jeden Zeitrahmen sprengt, zu leben. "Modern Times" ist ein paradoxes, vielschichtiges Album, das, wenn man genau hinhört, so ziemlich alles hinter sich lässt, was einem heutzutage an Musik vorgesetzt wird. //

Text: Manfred Horak
*Quelle: Robert M.W.Dixon, John Godrich & Howard W.Rye – Blues and Gospel Records 1890 – 1943 (Oxford; 1997)

CD-Tipp:
Bob Dylan - Modern Times
Musik: @@@@@@
Klang: @@@@
Label/Vertrieb: Columbia/Sony BMG

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