Der Konzeptkünstler Olaf Nicolai hat in der Wiener Kunsthalle einen Medialoop angestoßen, der poetisch wie politisch Kreise zieht und unsere Wahrnehmung von medialen Bildern hinterfragen will.

Sind Sie schon einmal in ein Gemälde gesprungen? So richtig in Kunst eingetaucht? In der Kunsthalle Wien kann man das bis 7. Oktober 2018: Die Werke in der oberen Ausstellungshalle sind auf den Boden gemalt, Betreten ist erwünscht. Der Konzeptkünstler Olaf Nicolai hat für die Ausstellung "There is No Place Before Arrival" 22 Straßenmalerinnen und Straßenmaler beauftragt, diese Bodenmalereien anzufertigen. Es handelt sich um Bilder aus Zeitungen, die er in seinem Archiv gesammelt hat. In der Kunsthalle Wien werden sie nun in ein anderes Medium übersetzt, von der flüchtigen Print-Zeitung von einst in die noch flüchtigere Kreidemalerei von heute. Morgen sind sie vielleicht schon auf Instagram gepostet, später werden sie wieder ihren Weg in die Print-Zeitung finden: Während der Laufzeit der Ausstellung werden die Bilder nämlich in verschiedenen Medien abgedruckt, und so setzt Olaf Nicolai gewissermaßen einen Loop in Gang - einen Medialoop. Mehr dazu siehe am Ende des Artikels.

Spuren hinterlassen

Diese Installation in der 1200 m2 großen Ausstellungshalle der Kunsthalle Wien entsteht seit Juli 2018, Werk für Werk. Den Malerinnen und Malern kann man, so sie gerade am Arbeiten sind, dabei über die Schulter schauen. Sind sie es nicht, erzählt ein motiviert herumstehendes Einkaufswagerl mit Malutensilien von dem künstlerischen Prozess, abgeklebte Stellen auf dem Boden verweisen auf das Entstehende. Die Besucherinnen und Besucher sind ausdrücklich eingeladen, über die fertigen Werke zu spazieren: über eine Landschaft, über einen Herrn im sommerlichen Anzug, über einen Roboter - und halt, ist da hinten nicht ein Bild vom Meer? Man will schon Anlauf nehmen für eine imaginierte Abkühlung, da hält man inne: Was, wenn dieses Meer von Ertrinkenden erzählt? Und schon macht man einen großen Bogen… - Welche Spuren werden die Besucher am Ende der Ausstellung auf den Bildern hinterlassen haben?

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Drei Ausstellungen, verbunden durch eine gemeinsame Publikation

Zu der Ausstellung "There Is No Place Before Arrival" gehören neben der raumgreifenden Installation im Kunsthalle-Obergeschoß auch weitere Objekte, die teilweise in Wien verstreut sind, wie eine arabische Übersetzung von Freuds "Trauer und Melancholie" im Sigmund Freud Museum oder ein H. C. Artmann gewidmetes Werk im Antiquariat Georg Fritsch in der Wiener Schönlaterngasse. Abwechselnd vor Burg- und Volkstheater wird das Auto von Helene Weigel geparkt, ein Mercedes Baujahr 1967, den Nicolai gekauft hat, und der nun als Intervention im urbanen Raum sein Ausgedinge findet. Parallel zu der Wiener Ausstellung laufen außerdem zwei andere von Olaf Nicolai, eine in der Kunsthalle Bielefeld (bis 9. September 2018) und im Kunstmuseum St. Gallen (bis 11. November 2018), die jede für sich stehen, aber auch in Beziehung zueinander gesehen werden können und am Ende durch eine gemeinsame Publikation verbunden werden.

Bilder mit doppeltem Charakter

Nicolai zeigt, da wie dort, Kunst nicht als Produkt, sondern als Teil eines komplexen Prozesses. In der Wiener Kunsthalle geht es um die Beziehung, die wir zu Bildern aufbauen. Viele der Bilder, die Nicolai für diese Installation ausgewählt hat, haben doppelten Charakter, sie verraten den Kontext, in dem sie ursprünglich publiziert wurden, nicht gleich. Im Booklet kann man ihn nachlesen. So entpuppt sich der adrette Herr im sommerlichen Anzug von vorhin als Teilnehmer des Neonazi-Aufmarsches in Münster 2006. Und das Bild der Schneelandschaft liest sich plötzlich ganz anders: Es sind die letzten Wege von 16 Menschen, die von einer Lawine getötet wurden. Dass man jedes Bild für sich - und erst recht alle gemeinsam - auch ganz anders lesen kann, zeigt sich nicht nur darin, dass die Kontextualisierung nicht direkt vor Ort, sondern ausschließlich im begleitenden Booklet erläutert wird. Und doch, so eindeutig ist es auch hier nicht: Neben der Quellenangabe ist jedes Bild auch noch mit assoziativ gewählten Zitaten versehen. Und so wird ein Bild erst dann zu einem Bild, wenn man damit in Beziehung tritt und ein Ort erst dann zu einem, wenn man ankommt: "There Is No Place Before Arrival".

Auf Kunst eingehen

Durch die schrittweise Aneignung der Besucherinnen und Besucher entsteht ein Tableau, das sich ständig verändert. Zusätzlich wurden Schriftsteller, Tänzer, Performer und Musiker eingeladen, auf die Bilder einzugehen - in jedem Wortsinn. Die Schritte der Kunst, die, vor Ort mit Kreide, im Internet und in der Zeitung durch Reproduktion, so sichtbar werden, sind hochpoetisch, die Fragen, die sich dahinter auftun, hochpolitisch: Was machen die Bilder mit uns, die Medien tagtäglich verbreiten? Wie sollen wir die Welt sehen und wer soll das bestimmen? Nicolai hinterfragt damit die gewohnten Sichtweisen und reflektiert das Verhältnis von Bedeutung und Erfahrung. Eine leichtfüßige Ausstellung ist das nicht. Aber es könnte eine sein. "Mach es nicht so kompliziert", unterbricht Mary Poppins in der Disney-Verfilmung die umständlichen Erklärungen des Straßenmalers und springt in sein Bild einfach hinein. - Sind Sie noch nie in ein Gemälde gesprungen? In der Kunsthalle Wien haben Sie Gelegenheit dazu. Nützen Sie sie. //

Text: Manfred Horak
Fotos: Kunsthalle Wien / Olaf Nicolai


Ausstellungs-Tipp:
There Is No Place Before Arrival
Bis 7. Oktober 2018
Kunsthalle Wien, MQ
Kurator: Luca Lo Pinto
Täglich 11 bis 19 Uhr, Dienstag bis 21 Uhr

#medialoop - Der Kunst ihre Zeitung
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Die auf den Boden der Kunsthalle übertragenen Medienbilder aus dem Privatarchiv von Olaf Nicolai werden nach ihrer Entstehung von museum in progress in die Medienräume von achtzehn Zeitungen und Magazinen - darunter auch Die Furche - überführt und so in einem kontextuellen Feedback-Loop fortgeführt. Zum Angreifen und Herausnehmen wird Die Furche in der Ausgabe vom 30. August 2018 auf einer Doppelseite "The Terrified Monks" abdrucken. Am 27. September 2018 wird, wiederum auf einer Doppelseite, das gleiche Motiv abgedruckt, jedoch mit den Spuren, die durch die Kunsthallen Besucher auf der begehbaren Bodenmalerei entstanden sind. Zusätzlich wurde auf Instagram ein digitaler Ausstellungsraum eröffnet, in dem Ausstellungsbesucher und Zeitungsleser ihre Fotos teilen können. Der Hashtag ist #medialoop.