Zwei Frauengestalten aus der griechischen Mythologie finden im März 2017 Platz auf Wiener Theaterbühnen: Medea und Antigone - und beide Geschichten erweisen sich als hochaktueller Erzählstoff. Das im KosmosTheater aufgeführte "Medea. Stimmen" basiert weder auf Euripides, noch auf Seneca oder Ovid, sondern auf den gleichnamigen Roman von Christa Wolf unter der kundigen Regie von Julia Nina Kneussel und der Dramaturgin Martina Theissl. Antigone wiederum ist im Dschungel Wien unter der gelungenen Regiearbeit von Corinne Eckenstein für die Zielgruppe der Erstwähler (16+) zu sehen und basiert nicht auf Sophokles, sondern auf die dramatische Bearbeitung der jungen Zürcher Autorin Darja Stocker, die ihr Stück "Nirgends in Friede. Antigone." rund um die Ereignisse im Arabischen Frühling erzählt.

Will man das eine sehen, sollte man sich auch das andere anschauen

Heraus kamen dabei zwei sprachmächtige Plädoyers rund um die Spannungsfelder Demokratie und Migrations- und Flüchtlingspolitik, die sich auf wundersame Weise hervorragend ergänzen. Will man das eine sehen, sollte man sich auch das andere anschauen. Beide Stücke zu sehen ist auch insofern interessant, da man die unterschiedlichen Herangehensweisen in Regie und Dramaturgie gut erkennen kann, wobei "Medea. Stimmen" von Kneussel-Theissl erstmals fürs Theater adaptiert wurde und "Nirgends in Friede. Antigone." hingegen ursprünglich als Stückauftrag für das Theater Basel entstand. Prinzipielle Gemeinsamkeiten finden sich in der Sprachlastigkeit (inklusive Stimmeinspielungen), der Bewegungsintensität und in der Bühnenbildästhetik. Aber wie bereits erwähnt sind die Herangehensweisen dann doch sehr unterschiedlich.

Erschreckend aktuell

"Medea. Stimmen" ist ein von Monologen geprägtes Stück, was natürlich der Literaturvorlage geschuldet ist und würde sogar auch als Hörspiel sehr gut funktionieren, nicht nur als Theaterstück. Die Schuld im Stück wird hier bei Außenseitern gesucht, und Medea bringt gleich zu Beginn des Stücks Licht ins Dunkel vor dem Vergessen werden, vor dem Vertuschen, und nicht zuletzt vor dem Verdrehen von Tatsachen, da sie ja in der Literaturgeschichte als Kindsmörderin abgestempelt wurde, bevor Christa Wolf eine Berichtigung vornahm. Die Heilerin Medea flüchtet gemeinsam mit Jason (dem Argonauten) vor der Tyrannei ihres Vaters von Kolchis (heutiges Georgien) nach Korinth und hofft dort auf ein besseres, angenehmeres, Leben. Ein Wunschtraum, der allzu bald verblasst, da Medea eine viel zu selbstbewusste Frau ist, die im strikt patriarchalen Korinth für viel Aufsehen sorgt und zudem noch auf ein verhängnisvolles Geheimnis aus dem Königshaus stößt, das ihr letztendlich Verleumdung einbringt und den Zorn des Pöbel, aufgewiegelt durch die Mächtigen. Besiegelt wird ihr Schicksal schließlich, nachdem die Pest nach einem Erdbeben ausbricht. Beunruhigend gespenstische Szenen, umgesetzt von einem großartigen Schauspiel-Ensemble, namentlich Anne Grabowski (Medea), Petra Staduan (Agameda und Glauke), Jan Hutter (Jason und Presbon), sowie Jens Ole Schmieder (Akamas und Leukon). Die Aktualität des Stücks ist geradezu erschreckend und beschämend, genauso wie "Nirgends in Friede. Antigone.", das andere mythologische Stück, das im Dschungel Wien gezeigt wird.

Interview mit Julia Nina Kneussel zum Theaterstück "Medea. Stimmen"

Eine Geschichte vom Widerstand

Im Gegensatz zu "Medea. Stimmen", das ausschließlich mit den Worten von Christa Wolf auskommt, schrieb Darja Stocker, wie bereits eingangs erwähnt, "Nirgends in Friede. Antigone." als Dialogstarken Text fürs Theater. Corinne Eckenstein (Regie) nahm sich dieses Stück an und streute hochaktuelles mit ein. Zitate von US-Präsident Donald Trump z.B. und Anspielungen auf den Noch-Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) und seiner absurden Demokratiefeindlichen Idee das Demonstrationsrecht einzuschränken, was denn auch prompt für Lacher im Publikum sorgte. Zitate und Anspielungen, die Sinn machen, da ja bereits Sophokles eine Geschichte vom Widerstand erzählte. Antigone als Einzelne gegen die autoritäre Staatsgewalt. Ihr Widerstand ging so weit, dass sie den Tod in Kauf nimmt, nachdem sie ihr eigenes Gewissen über das Gesetz stellte. Das war vor mehr als 2.500 Jahren.

Es gibt keine Generation mehr, nur noch eine Situation, die nicht mehr zu ertragen ist

Darja Stocker holte sich die Idee für eine Neubearbeitung des antiken Stoffes, als sie um 2014 herum in Ägypten und Tunesien lebte. Der Arabische Frühling verkam zunehmend zum Scherbenhaufen und aktuelle Entwicklungen bringen kaum jemals positive Nachrichten. Der Dschungel Wien wirbt für das Stück auf den Plakaten folgerichtig mit der Aussage "Es gibt keine Generation mehr, nur noch eine Situation, die nicht mehr zu ertragen ist." - Eine Aussage, die freilich auch im Stück vorkommt. Ob die Komplexität des Stückes und die Komplexität der realen Ereignisse tatsächlich für ein 16+ Publikum geeignet ist, darf hinterfragt werden, wenn man an die politische Bildung an österreichischen Schulen denkt, und von daher wären vielleicht Einführungsgespräche zum Stück ein probates Mittel etwaige Verständnisprobleme zu minimieren.

Die Lenker des Stücks

Das Stück selbst fesselt und zieht einem richtiggehend in den Bann, entwickelt ein Auf und Ab von Gefühlen, hat (tragischen) Humor, Tiefgang und (humorige) Tragik, und bietet jede Menge Parolen, Denkweisen, Behauptungen, Irritationen und Empfindungen. Im Blickwinkel ist dabei stets die Suche nach dem Sinn der ewigen Gerechtigkeit. Die Darsteller Zeynep Alan, Elif Bilici, Ayşe Bostancı, Jonathan Fetka, Tanju Kamer, Ines Miro, Onur 'Cağdaş' Şahan - sie sind Studierende des diverCITYLABs (weiterführende Infos könnt ihr im Podcast Interview mit Corinne Eckenstein hören) - tragen das Stück nochmals ein paar Stockwerk höher. Mit ihrem bewegungsintensiven Spiel sind sie die Lenker des Stücks.

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Eine Mauer rund um Europa

Was bleibt übrig von den zwei Theaterbesuchen? Erneut die Erkenntnis, dass die interessantesten Theaterstücke in Wien weiterhin in den kleineren und mittleren Theaterhäusern zu sehen sind, aber auch, dass unser Charakter unser Schicksal ist. Und quasi als Abspann sei noch geschrieben: Nach dem Besuch der Vorstellungen von "Medea. Stimmen" im KosmosTheater und "Nirgends in Friede. Antigone." im Dschungel Wien waren die Gedanken immer wieder auch bei der Rede von Charlie Chaplin aus dem Film "Der Große Diktator", die da (stark gekürzt) lauteten: "Wir könnten frei und anmutig durchs Leben gehen, doch wir haben den Weg verloren. Die Gier hat die Seelen der Menschen vergiftet - sie hat die Welt mit einer Mauer aus Hass umgeben - hat uns im Stechschritt in Elend und Blutvergießen marschieren lassen." Bei "Medea. Stimmen" gibt es am Ende keine Antwort und auch keine Versöhnung. "Nirgends in Friede. Antigone." endet hingegen mit einer schönen Vision. Wer sie hören möchte, muss das Stück besuchen. //

Text: Manfred Horak
Szenenfotos: Rainer Berson, Bettina Frenzel


Nirgends in Friede. Antigone.
Bewertung: @@@@@
Altersempfehlung: 16+
Kritik zur Premiere am 10.3.2017 im Dschungel Wien
Autorin: Darja Stocker
Regie: Corinne Eckenstein
Musik: Uwe Felchle
Bühne: Markus Liszt
Kostüm: Ingrid Leibezeder
Dramaturgie: Anna Schober
Regieassistenz: Sandra Moser
Regiehospitanz: Philipp Moritz
Ausstattungshospitanz: Alaz Deniz Köymen
Dramaturgiehospitanz: Sophie Mashraki
Produktion: Hülya Çelik, Alenka Breitfuss
DarstellerInnen: Zeynep Alan, Elif Bilici, Ayşe Bostancı, Jonathan Fetka, Tanju Kamer, Ines Miro, Onur 'Cağdaş' Şahan

Medea. Stimmen
nach dem Roman von Christa Wolf
Bewertung: @@@@@
Zu sehen bis 18.3.2017 (Mi – Sa | 20:00 Uhr)
Kritik zur Uraufführung am 2.3.2017 im KosmosTheater Wien
Regie: Julia Nina Kneussel
Dramaturgie: Martina Theissl
Musik: Markus Jakisic
Ausstattung: Caro Stark
Regieassistenz: Stephanie Kohlross
Mit: Anne Grabowski, Jan Hutter, Jens Ole Schmieder, Petra Staduan