vb2Von den Kritikern der Zeitschrift "Theater heute" wurde "Verrücktes Blut" zum Stück des Jahres 2011 gekürt, das noch bis April 2012 erstmals in Wien gezeigt wird, und zwar in der Garage X im Rahmen der im Februar zu Ende gegangenen Projektreihe "Pimp my Integration".

Schauplatz Klassenzimmer einer so genannten "Brennpunktschule". Die imagegeschwächte Hauptschule mit einem meist hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund, oft mit Bezirken wie Neukölln in Berlin oder Ottakring in Wien assoziiert, ist nicht nur Gegenstand der aktuellen Bildungsdebatte Gesamtschule gegen differenziertes Sekundarstufe-I-Schulsystem. Auf sie wird auch zur Veranschaulichung jüngster extremer Positionen rund um Integration und Leitkultur verwiesen, hier wie auch beim deutschen Nachbarn (man denke nur an die Thesen Silo Sarrazins). In diesem Fall ist die "Problemschule" theatraler Austragungsort dieser Brennpunkte im preisgekrönten Stück "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat und Jens Hellje.

Der Mensch ist nur da ganz Mensch wo er spielt

Bis die in der Geschichte Österreichs bislang erfolgreichste Bildungsinitiative (Herbst 2011), die Reformen zur Umsetzung eines fairen Schulsystems für Migrantenkinder, ebenso wie Gesamtschule und Ganztagsschule fordert, (Initiator Hannes Androsch,) vor dem Nationalrat behandelt wird, und ob es zu einem Umdenken für mehr Investition in ein faireres Bildungssystem in Zeiten von Einsparungen bei Beamten wie Lehrerinnen kommen wird, bleibt den Lehrkräften nur der Griff zur Waffe, um ihre Nichtsnutze in Sachen aufklärerischer Ideale aufzudeutschen. Frau Kehlich, hochmotivierte, bildungsbürgerliche Lehrerin anfangs noch recht hilflos gegenüber ihren allzeit zu Gewalt bereiten Teenagern denen jegliche "Mannszucht" fehlt, weiß die plötzlich in ihre Hände geratene Waffe sinnvoll für ihre Zwecke zu gebrauchen. Gemäß pädagogischem Prinzip bekommt jede/r die Gelegenheit eine Rolle in Schillers "Die Räuber" mit vorgehaltener Waffe spielen zu "dürfen". Wer sich dagegen sträubt und die Lehrerin eine Schlampe nennt muss erstmal lernen was das Wort bedeutet und diese mit heruntergelassenen Hosen mit korrekter deutscher Aussprache wiederholen. Und wer sich wie der schüchterne Hassan aus dem Kosovo nicht traut die Rolle des selbstbewussten Franz umzusetzen, muss sich an die Eier greifen. Denn Bildung und das Spiel der Kunst sind das einzige was diese hirnlosen, faulen Primaten noch retten könnte, konstatiert Frau Kehlich und zitiert Schiller: "Der Mensch ist nur da ganz Mensch wo er spielt".

Wiener Lokalkolorit

Durch Thriller, Komödie und Melodram hindurch spielen sich die SchülerInnen unfreiwillig vorwärts Richtung aufklärerischer Ideale und innerer Befreiung durch Kunst. Als eine muslimische Schülerin afrikanischer Abstammung ihre kopfbedeckenden Hüllen fallen lässt, um in der Hitze des Gefechts damit den türkischen Raudi und beängstigenden Klassenanführer Massad festzubinden, kehrt Totenstille ein. Noch nie hatten die MitschülerInnen die Haare ihrer Mitschülerin gesehen. Trotzdem geht es den Autoren nicht darum für die Ideale der Leitkultur zu plädieren, sondern aufzudecken, dass Herkunft und nationale Identität das Ergebnis einer Konstruktion und des Wunsches nach Anpassung sind, als vermeintlich klare Identitäten sich gegen Ende des Stücks als gefälschte entpuppen. Volker Schmidt (Inszenierung, u.a. Nestroy-Preis 2008 für die beste OFF-Produktion "Koma") setzt die Wiener Ur- und Erstaufführung des Theaterstücks von Nurkan Erpulat und Jens Hillje mit österreichischer und expliziter Wiener "local color" um. Volkstümliches, österreichisches Liedergut wie etwa "Fein sein, beinaunder bleibn" und Wiener Proleten-Slang wie "Fut" oder "Tschusch", genauso wie auch ordinäre Sprüche auf türkisch, tönen lauthals aus dem frechen Munde der exemplarischen Integrationsverweigerer Sarrazins. Allerdings hätte das Stück auch ruhig noch mehr Nähe zu hiesigen Debatten und ethnischen Brennpunkten vertragen. Die zugespitzte, passagenweise temporeiche und amüsante Umsetzung von Schmidt wurde mit viel Applaus honoriert, allen voran die Protagonistin Karin Yoko Jochum in der Rolle der terroristischen Hauptschullehrerin. Bleibt zu hoffen, dass die im Publikum anwesenden LehrerInnen nicht zu ähnlichen Taten schreiten angesichts der prekären Situation in den (Haupt)-Schulen Wiens. Andererseits bietet Theater wie dieses ein Ventil, wenigstens in der Kunst all das herzhaft auszuleben, was Mann/Frau sonst nicht tun kann/darf/soll. Das Stück ist noch bis Ende April 2012 in der Garage X zu sehen. (Text: Kathrin Blasbichler; Fotos: Garage X)

vb3Kurz-Infos:
Verrücktes Blut
Bewertung: @@@@
von Nurkan Erpulat & Jens Hillje
Frei nach d
em Film "La Journée de la Jupe"
Drehbuch und Regie: Jean-Paul Lilienfeld (ÖEA)
Eine Kooperation von Garage X und daskunst
Zu sehen im Rahmen der Projektreihe "Pimp my integration"