momo-2011-01Jeder kennt sie, jeder hat sie, viele nehmen es einfach so hin und denken erst gar nicht mal lange darüber nach. Die Zeit ist "ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis", wie Michael Ende in seinem erstmals 1973 veröffentlichten Roman "Momo" schrieb. Dschungel Wien Modern revitalisiert die Geschichte mithilfe von zeitgenössischer Musik, Gesang und Tanz für die Theaterbühne.

Unser Leben ist unser Vermögen, das uns nur einmal zur Verfügung steht. Da ist man schnell mal Milliardär - Sekundenmilliardär. Bei einer vorsichtigen Schätzung von 70 erwarteten Lebensjahren sind das stolze 2 207 520 000 Sekunden. Ein derart großes Vermögen muss natürlich verwaltet werden. Wie wir alle wissen, gehen wir sehr schleissig damit um, vertrödeln Tag für Tag unser Leben und verplempern somit unser einziges wahres Kapital auf fast schon verantwortungslose Weise. Unnötig lange Essenszeiten, Freunde treffen, Bücher lesen, einfach Nichtstun oder möglicherweise sogar ins Theater gehen - alles Zeit, die man gut einsparen könnte. Gut, dass es die Grauen Herren gibt, die unser Zeitguthaben auf einem Zeitsparbuch, die nicht nur die eingesparte Zeit aufbewahrt, sondern auch noch Zinsen dafür zahlt, oder, wie es bei Michael Ende im Original-Momo heißt: "Wenn sie Ihre ersparte Zeit nicht vor fünf Jahren von uns zurückverlangen, dann bezahlen wir Ihnen noch einmal dieselbe Summe dazu." Das Vermögen verdoppelt sich also alle fünf Jahre, bei nur zwei Stunden täglich ersparter Zeit macht das in 40 Jahren das Zehnfache der ursprünglichen Lebenszeit. Die Inszenierung bei Dschungel Wien Modern greift dieses wichtige Element des Romans natürlich auf, bewegt sich allerdings streckenweise sehr weit weg vom Original - aus gutem Grund und mit Absicht. Eine Modernisierung des Stücks unter der Regie von Sara Ostertag war jedenfalls beileibe keine falsche Entscheidung; schließlich ist die Lebensrealität eines jungen Publikums im Jahr 2011 eine gänzlich andere als 1973, und so wie sich die Zeiten stark änderten, muss man wohl auch hinterfragen, wer denn diese Grauen Herren heute sind.

Zeit ist Geld und Stillstand unser Feind

Das Stück beginnt - naheliegend - mit einer Zeitansage, danach gibt es gleich mal einen Rap, begleitet auf einer Ukulele, und die Vorstellung der Protagonist/innen. Gigi, der Geschichtenerzähler, Nino, der Restaurantbesitzer, Beppo, der Straßenkehrer mit den speziellen Gedanken, und natürlich Momo. Die Vier sind unzertrennlich und singen sogleich ein an die NDW (Neue Deutsche Welle) erinnerndes Schubidu-Liedchen, in dem von verschiedenartigen Beinen gesungen wird, das so manchem jungen Besucher im Publikum vom Text her irritiert. Erst danach geht es eigentlich so richtig los mit der Geschichte von Michael Ende. Wir hören einen Grauen Herren deren Botschaft sagen, "Zeit ist Geld und Stillstand unser Feind", und wir sehen Slapstickszenen mit figurativer Musik. Mit Akkordeon, Viola und Klarinette, personell besetzt mit den Musikerinnen Bojana Foinidis, Jelena Popržan und Theresia Schmidinger, wird so die Erzählung fantasievoll zum Laufen gebracht. Die hoch motivierten und spielfreudigen Darsteller/innen Katja Göhler, Michael Pöllmann, Simon Dietersdorfer, Michele Rohrbach und David Berger beatboxen über Hunger, Stress und Termine und kommen zum fatalen Schluss, "Um Zeit zu sparen, schreib mir bitte eine SMS". Momo erkennt als Einzige die wahren Absichten der Grauen Herren und macht sich auf "die Demokratie gegen die Zeiträuber" zu retten, und prompt erhält der Graue Herr mit der Nummer ZSK 1948 den Auftrag Momo zu vernichten. Die Verfolgungsjagd führt in die Niemalsgasse, und tatsächlich kommt man tänzerisch dabei nicht vom Fleck. Unterlegt wird diese tolle Szene von spannungsgeladenen musikalischen Miniaturen, während Lisa Rombach als Meister Hora, der geheimnisvollen Verwalterin der Zeit, den klassischen Gesang bevorzugt und ihre erste Arie im Stück zum Besten gibt. Visuell toll aufgelöst sind auch jene Szenen mit Momo, der Schildkröte Kassiopeia und Meister Hora, in der Momo die entscheidende Frage stellt, was denn eigentlich Zeit ist. Diese Mischung aus Neuer Musik und Populärmusik, komponiert von Hannes Dufek, schauspielerisch aufgelöst in schnellen Szenen und ruhigen Momenten bot insgesamt ein feines Spannungsfeld der Gefühle - auf Humor wurde ebenso wenig vergessen wie auf die Botschaft gegen Betrug und den Blendern dieser Welt wachsam zu sein, besser zu zweifeln als immer nur Ja zu sagen. "Momo oder die Legende vom Jetzt" ist ein rasantes und gänzlich gelungenes Stück, das auch die Wichtigkeit von Freundschaft unterstreicht. Mit dem großartigen finalen Song und der Textzeile "Mein Herz ist voll" endet diese Dschungel Wien Modern Inszenierung - und für all das Gebotene gab es donnernden Applaus. Und wir, das Publikum, hatten ja auch Recht mit der Applauseuphorie, denn es war fürwahr eine Glanzleistung, was da geboten wurde. (Text: Manfred Horak; Fotos: Christa Bauer, Nanna Neudeck)

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Kurz-Infos:
Momo oder die Legende vom Jetzt
Bewertung: @@@@@
Schauspiel mit Musik, Tanz & Video
ca. 80 Min.

Kritik zur Premiere am 11.11.2011 im Dschungel Wien


Konzept, Spielleitung:
Sara Ostertag
Bühnen- & Kostümbild:
Christian Schlechter, Birgit Kellner

Konzept, Komposition: Hannes Dufek
Choreografie: Martina Rösler
Dramaturgie, Textfassung: Anne-Sophie Meusburger
Liedtexte: Albert Farkas, Simon Dietersdorfer
Produktionsleitung: Julia Wiggers
Regieassistenz: Amelie Barucha
DarstellerInnen: Katja Göhler, Michael Pöllmann, Simon Dietersdorfer, Michèle Rohrbach, David Berger
Sängerin: Lisa Rombach
Instrumentalistinnen: Bojana Foinidis (
Akkordeon), Theresia Schmidinger (Klarinetten), Jelena Popržan (Viola)