tanzwutcreditbettina-frenzeDas Festival Tanzwut im Kosmos Theater zeigte mit "alien anonymous" von Julia Mach und "Zeilenabstand" von Claudia Wagner/changing positions ausgereifte Stücke der beiden Tanzpool-artists-in-residence.

Bin ich George Clooney?

In Stanislaw Lems Roman "Solaris" wird der Wissenschaftler Kris, in der Soderbergh-Verfilmung gespielt von George Clooney, von Kopien seiner toten Geliebten Harey in den Wahnsinn getrieben. Kaum ist er eine losgeworden, taucht eine neue Kopie auf, nie kann Kris vorhersagen, welche Phase ihrer Beziehung, die im Selbstmord von Harey tragisch endete, die Kopie spielt. Oder erlebt. Denselben Zweifeln ist der Zuschauer in Julia Machs Stück "alien anonymous" ausgesetzt, auch er weiß nie: Werden ihm hier seelische Zustände gezeigt oder sind es nur die Kopien zwischenmenschlicher Codes, als Bewegungsmaterial verwendet? Ausgestattet mit identischen weißen Kleidern verweben Julia Mach und Anna Nowak anspruchsvolle tänzerische Sequenzen mit leisem Lachen und fragendem Innehalten. Die scheinbare Unabhängigkeit der beiden Tänzerinnen voneinander löst sich in kurzen Unisonos und schließlich einer sehr starken Passage auf, in der die beiden Figuren mit geschlossenen Augen dicht nebeneinander stehen und mit den Händen suchen, ohne einander mehr als zu streifen. Die Choreografie hinterlässt einen ähnlichen Schwebezustand wie der Roman, bei beidem wird nie ganz klar, woran man hier ist. Atmosphärisch starke Musik und sparsam eingesetzte Schwarz-weiß Projektionen ergänzen die Arbeit zu einem sauber gearbeiteten Ganzen.

Ich bin allein heut' Nacht

Claudia Wagners "Zeilenabstand" setzt Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg in starke Bildersprache um. Die Tonspur mit zum Teil verfremdeten Aufnahmen der Briefe und Lieder aus der Kriegszeit bildet die Unterlage für die immer beklemmender werdenden Tanzszenen, die Claudia Wagner und Michael Dolan auf die Bühne stellen. Drei verschiebbare  Vorhänge öffnen und verbergen verschiedene, sparsam möblierte Räume und dienen als Projektionsfläche: Lauftexte, vertikal gedrehter Wörterregen, stetig marschierende Buchstabenreihen wechseln ab mit Körperdetails in vorsichtiger Berührung. Die tänzerischen Szenen thematisieren die Sehnsucht des durch den Krieg getrennten Paares und die mit fortschreitendem Kriegsgeschehen aufkommende Verzweiflung, Verwirrung und Erschöpfung. Der Mann am Tisch, ein großes Stück Packpapier auseinander- und wieder zusammenfaltend, sorgsam, wie wertvoll mögen die Briefe der Liebsten gewesen sein? Ein Lachen, das zum Weinen wird unter der Gießkannendusche schlaflose Nächte. Die Stille vor dem Applaus spricht eine deutliche Sprache.

Mit Tanzwut präsentierten die beiden Tanzpool-Macher Silvia Both und Andreas Payer einen Querschnitt durch das Schaffen junger in Wien lebender Choreograf/innen. Vertreten sind auch die drei letzten artists-in-residence bei tanzpool, einer Initiative, die seit 1999 Künstler mit unterschiedlichen Angeboten unterstützte und mangels weiterer Förderung vorläufig eingestellt werden muss. (Text: Ina Rager; Foto: Bettina Frenzel)

Kurz-Infos:
tanzwut
Tanz/Performance Festival 2010
Bewertung: @@@@
Kritik zu den Aufführungen
am 12. und 13. November 2010
KosmosTheater Wien