sbw-everything01"Nicht jedes Kind hat ein heiles Familienleben, [...] nicht jeder der seinen Wohnort verlässt, findet an einem neuen Ort einen schützenden Hafen an dem er sich zu Hause fühlen darf." Das sind die einleitenden Worte der Broschüre zum Szene Bunte Wähne Theaterfestival 2009 in Horn. Und in der Tat, treffender hätte man es für die internationale Produktion "Everything Falls Apart" nicht ausdrücken können.

Ausgangspunkt des Stücks ist eine slowakische Familie, die Endstation wird London sein. Die Familie bedient alle Klischees des Ostens: die Kinder in Jogginghosen und Slippers, die Mutter im Leopardenlook, das Bühnenbild eine durchschnittliche Plattenbau-Wohnung. Das Stück setzt am Ende an und spannt einen Bogen zum eigentlichen Anfang. Der Beginn in der Londoner U-Bahn ist auch schon das Ende der Geschichte, vor dem Bombenattentat in der Londoner U-Bahn gewährt uns der Attentäter noch Einblick in die Geschichte von Martin, dem Idioten, und Roman, seinem Bruder und Beschützer. Martin übernimmt die heimliche Hauptrolle in der Geschichte. Er ist mit dem Down Syndrom zur Welt gekommen, ein Blitzeinschlag bringt ihm die besondere Liebe zur Musik, er spielt die Ziehharmonika mit Leidenschaft. Die Harmonika übernimmt auch das musikalische Leitmotiv des Stücks. Überhaupt ist sämtliche Musik von den Schauspielern gespielt und gesungen. Beeindruckend!

But there is nothing for free

Martins Talent zur Musik war ein Tauschgeschäft, die Sprache war das Pfand. Die Familie lebt in den üblichen Verhältnissen, der Alkohol spielt die größte Nebenrolle, der Vater ist Säufer und Spieler, die Mutter singt drittklassige Schlager mit Perücke. Der Schlepper Stepan macht ihnen Hoffnung auf ein besseres Leben: the boys sollen zu einem Onkel nach London gebracht werden, zu einem, der es im Westen zu etwas gebracht hat. Gut werden die Klischees auf satirisch-zynische Weise transportiert: im Westen bekommst du Geld fürs Kinder kriegen, ("Ist das wahr", wendet sich der Schlepper ans Publikum, "in Austria ihr bekommt Geld für jedes Kind, für zwei Kinder 'das Doppel'") du bekommst Geld, dass du nur ein Krüppel bist, und für "Mongos" da gibt's noch mehr Geld. Schließlich lassen sich die Eltern überreden, die Familie investiert 400 Euro in die Zukunft ihrer Söhne. Im Mercedes des Schleppers werden sie bis zur Grenze gebracht, von dort geht's weiter in einem "magic refrigeratööör". Die Rolle des Kühlschrank-Truckers spielt wieder der Vater der Buben, unglaublich komisch!

Heute London, morgen New York!

sbw-everything02In der Komik des Stücks liegt aber auch die Groteske. Nicht selten bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Das zeigt die Szene, als die Boys in London entladen werden. Der Onkel zwingt sie zur Bettelei in der Londoner U-Bahn. Eben noch amüsiert über den grotesk-skurrilen Auftritt des Onkels treffen die peitschenden Hiebe des Gürtels mit dem der Onkel an einem Stuhl das Exempel vollführt mitten ins Herz. Die unglaubliche Gewalt macht dem Zuschauer den Atem stocken. Mit den brutalen Gesten führt der Onkel den Neffen unmissverständlich die Aussichtslosigkeit ihrer Lage vor Augen, die Buben selbst, werden keinen Penny sehen, die Eltern freilich auch nicht. Aber Roman will nicht aufgeben, für Martin spielt er weiter: Wir haben's geschafft, Martin, heute London, morgen New York! Dazu wird es aber nicht mehr kommen. In der U-Bahn taucht der Kapuzenmann auf, jetzt ist es an Martin, den Idioten, zu handeln, nur er kennt die Pläne des Attentäters. Mit ungewohntem Nachdruck versucht er zumindest das Leben seines Bruders zu retten, aber "There will be no next Stopp".

Zuschauer als Requisit und Statist

"Everything Falls Apart" ist ein interaktives Stationentheater. Der Zuschauer wird zum Requisit und Statisten. Und so kann es vorkommen, dass man sich plötzlich sitzend in der U Bahn findet, vielleicht sogar Zeitung lesend, oder dass man Gast oder Kellner auf Martins Geburtstagsparty wird. Auserwählte dürfen sogar den Wunderbaum an der Angel im imaginierten Mercedes halten. Stationen also nicht nur im geographischen oder bühnentechnischen Sinn. Stationen auch in der Lebenswelt des Zuschauers. Und die Geschichte von Martin und Roman muss nicht die Endstation sein. (Text: Anne Aschenbrenner; Fotos: Tobias Metz)

Kurz-Infos:
Everything Falls Apart - Kollaps
Bewertung: @@@@@
Altersempfehlung: 14+
NIE-New International Encounter
Regie: Alex Byrne
Theaterkritik zur Aufführung am 25. September 2009 im Theaterstadl Zaingrub
im Rahmen von Szene Bunte Wähne Theaterfestival