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Sie hatten Gemeinsamkeiten, die nicht selbstverständlich sind: Eltern, die ihre Heimat zu Hause fanden; im Gegensatz dazu brachen beide - so oft es ging - auf und verreisten, um zu erfahren, ob der Begriff Heimat bloß ein Wort wie Achselhöhle sei oder nicht.
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...und
es war im Grunde eine Reise, statisch vollzogen, in Gesellschaft und einsam zugleich, einen ganzen Abend lang. Was ihn von den anderen unterscheidet mag unter anderem der Umstand sein, dass kaum jemand von ihnen in Saint-Pol de Léon war, er aber in Neuseeland. Aus deinem alten, angerosteten grünen VW-Bus die Welt zu beobachten wirkt altmodisch, kritisiert jemand aus der Runde, bedeutet jedoch Freiheit, erklärt er, die jedem Lebewesen beschieden sein sollte, Beamtenstaaten wüssten das allerdings zu verhindern, und wir alle, ergänzt er, wissen, jedes Land sei ein Beamtenstaat.

Kurios
wirkt die Tatsache, mit einer Gruppe von Menschen in einem Lokal zu sitzen, das überall in der Welt sein könnte. Alle haben Durst, wie in dieser Kurzgeschichte von Flann O'Brien, und wie in dieser Kurzgeschichte von Flann O'Brien ist das Bedienungspersonal nicht mehr bereit, die Gäste vom Durst zu befreien, was daran liegt, dass ab einer gewissen Uhrzeit Gäste keinen Durst mehr haben dürfen, ab einer gewissen Uhrzeit müssen sie also bereits bis zum Rand abgefüllt sein. Bei den wenigsten Anwesenden wurde der Rand erreicht, daher ist es nicht besonders verwunderlich, einige beobachten zu können, wie sie versuchen, vom Bedienungspersonal, einer streng wirkenden jungen Frau übrigens, die mit Sicherheit lieber im Bett läge als im Lokal zu stehen, eine letzte Runde gewährt zu bekommen. Der günstigste Moment, die Konversation zu beenden, ist zudem längst vergangen. Die ungünstige Situation begann damit, Bono beim Singen zuhören zu müssen - "With or without you" - und dem nicht genug, die einfallenden Gesänge der anderen mitertragen zu müssen. Die Steigerung aller Unannehmlichkeiten artete in jener Zwangskonsumation aus, lyrische Momente durchschnittlicher Westeuropäer anzuhören. Sie, die lieber im Bett läge als im Lokal zu bedienen, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, und er, der lieber weg- als zuhören würde, musste an dieses verdammte Lokal in Ohio denken, das in Wahrheit ebenso wie dieses Lokal überall in der Welt einen gerechten Standort gefunden hätte und in dem er zwar nicht seine Jungfräulichkeit, dafür aber seine Glaubwürdigkeit verlor durch diesen einen, in aller Bescheidenheit ausgesprochenen Satz, der ihm noch viel mehr kostete als die Glaubwürdigkeit. Die Jungfräulichkeit verlor er andernorts."

Es
klopfte an der Tür, in meinem Sinnesrausch glaubte ich das Telephon klingeln zu hören und da ich gerade am rasieren war, drückte ich mir anstelle des Telephonhörers den Rasierapparat regelrecht ins Ohr, trotzdem schleppte ich mich zur Tür, davor stand leider kein Arzt, sondern ein Vertreter einer Buchgemeinschaft, der im tiefsten Inneren kein Mitgefühl für mich zeigte, sondern einzig daran interessiert war, bevor ich eingeliefert werde, noch meine Unterschrift unter diesem Vertrag zu setzen, damit ich die nächsten Jahre regelmäßig Bestseller frei Haus geliefert bekomme, auf die eigentlich niemand gewartet hat, schon gar nicht ich, oder, fragte er noch beiläufig, kennen sie unseren schönen Bildband "Vincent Van Gogh - Selbstportraits zum Nachmalen?", ich warf ihn kurzerhand aus der Wohnung und wollte gerade mein Ohr suchen, da erschien eine Frau im weißen Kostüm mit der Behauptung ein Kontaktinserat geschaltet zu haben, sie freue sich bereits seit Wochen auf dieses Treffen, aber unter diesen Umständen, sie deutete auf mein am Boden liegendes Ohr, wäre es vielleicht besser, das Kennen lernen zu vertagen, ob sie noch was tun könne für mich?, "ja, bitte, gehen"."

Die
Schilderung besaß einen Haken, den sie ihm missmutig anrechneten, nämlich jenen, dass sein Ohr keine einzige Narbe aufweist, heute diesen Satz zu wiederholen, besoffen wie sie sind, wäre weniger gefährlich, Hauptsache keine Lyrik, in diesem Zustand nicht und bitte auch in keinem anderen Zustand, er blickt zu jener Frau, die am liebsten im Bett läge, als im Lokal irgendwelche Wünsche zu erfüllen, für die sie zwar bezahlt bekommt, aber Gehalt bekommt sie auch des Nachts, im Bett liegend, wenn sie genau überlegt, zwar entfällt nächtens das Trinkgeld, aber lieber kein Trinkgeld als noch eine Stunde hier servieren, und wie er diese strenge, junge Frau, die eigentlich recht hübsch ist, ansieht, und doch noch eine Runde zum Servieren herrichtet, denkt er an die Observierung seiner Person, als er damals zu seiner ersten Demo ging, die ja in Wahrheit gar nicht seine Demo war, er war nur Mitgänger, kein Mitläufer, denn um Mitläufer zu sein, hätte er laufen müssen, und gelaufen ist er noch nie, jedenfalls war er bei dieser Demo zur Gleichbehandlung von Land- und Forstwirtschaft dabei, die gingen dort sogar so weit, bis sie im Wienerwald endeten, kehrt machten und zurück marschierten, seither wird er observiert, in manchen Bereichen seines Lebens auch abserviert, deshalb nahm er auch nie an diesen Demos für Servierer teil, was ihm die Observierer noch mehr übel nahmen, dabei sind seine besten Freundinnen Serviererinnen und das ist auch der Grund, dass er diese junge, strenge, dabei doch sehr hübsche Frau, die lieber im Bett läge als hier zu sein, mittlerweile anstarrt. Sie starrt nicht zurück, obwohl sie doch einige Male ein Lächeln für ihn übrig hat, aber das wirkt eher gequält, so wie es ihn quält, Lyrik von Besoffenen zu hören und Musik von allseits bekannten Gruppen zu hören, die Frank Zappa nur deshalb mögen, weil sie sein Album "We're only in it for the money" gründlich missverstehen.

Im
Grunde interessiert ihn nur eines, und das erinnert ihn an die zweigeteilte grüne Insel der Iren, Neuseeland, wo er beinahe täglich in einem Lokal wie diesem war, das zurecht überall in der Welt sein könnte, mit dem Unterschied, dass in Neuseeland irische Gruppen zur Animation beitrugen, die so unbekannt waren wie er es heute noch ist, dennoch waren sie gut, er weiß nicht, ob er gut ist, er weiß überhaupt nicht, was gut und böse ist, geschweige denn, ob er anders sein müsste, um gut zu sein, oder ob er gut ist angesichts dessen, dass er seit Jahren observiert wird, oder deswegen böse sei. Nancy, die Serviererin in Neuseeland, glaubte an das Gute in ihm, er wäre auch durchaus bereit gewesen, das Gute zu verkörpern, aber auch da stellte sich die Frage, ob sein vorhandener Körper bereits gut ist, oder ob er seinem vorhandenen Körper einer Veränderung zukommen lassen sollte. Nancy verneinte. Aber Nancy ist Neuseeländerin aus Irland, beziehungsweise eine Irin in Neuseeland, jedenfalls doch ziemlich weit weg vom Schuss, was europäische Identität anbelangt, obwohl ihre Eltern noch in Irland sesshaft waren, meine Eltern, erzählte er Nancy, sind die sesshaftesten Menschen, die man sich nur vorstellen kann, die Welt sei ein stinkendes Dorf, klärten sie mich von klein an auf, nur zu Hause haben sie alles unter Kontrolle dank hervorragender chemischer Mittel und selbst ihr Balkon, du musst nämlich wissen, Nancy, wir, das heißt, meine Eltern, haben einen wunderhübschen Balkon, obwohl sie zu ebener Erde wohnen und obwohl sich eine riesige Wiesenfläche vor der Wohnung ausbreitet, der Balkon befindet sich ständig unter Quarantäne, und da die Welt wie die Socken nicht stinken dürfen, sind meine Eltern die sesshaftesten Eltern weltweit. Daraufhin begannen sie zu streiten, welche Eltern sesshafter sind, denn die Behauptung von ihm, seine Eltern seien die sesshaftesten Menschen dieser Welt musste Nancy brüsk abwehren, da sie behauptete, ihre Eltern seien noch viel sesshafter und der Beweis ihrer Behauptung sei immerhin der Ort ihrer Geburt, der ihrer Rede zufolge aus reiner Bequemlichkeit und keinesfalls aus Zeitgründen in dieser kleinen, stickigen irischen Wohnung stattfand, obwohl Irland ja wie Neuseeland, grün, saftig und verregnet sei, Nancys Geburtsstätte aber war klein, stickig und feucht. Er glaubte, sich in Nancy verliebt zu haben, vermutlich, da beide Gemeinsamkeiten hatten, die nicht selbstverständlich sind, also Eltern, die ihre Heimat zu Hause fanden, hingegen Nancy und er aufbrachen, um zu erfahren, ob der Begriff Heimat bloß ein Wort wie Achselhöhle sei oder nicht.

Jetzt
in diesem Lokal, nicht wissend, ob auch das Heimat ist, versucht er einzig zu ergründen, ob er sich auch in diese streng wirkende, junge Frau, die lieber im Bett läge, als ihn zu bedienen, verlieben könne. Klar kann ich, denkt er, ich kann mich in jeden x-beliebigen Menschen verlieben, ich kann mich auch in ein Tier verlieben, klar kann ich und da hört er wieder diese Stimme aus der Ferne, die ihn einige Jahre zurücktransportiert und die ihn erneut nach Saint-Pol de Léon führt, an jenem Platz, an dem er sozusagen seine Jungfräulichkeit verlor, und er war gerade der Pubertät entwachsen und da war dieser Hafen und da war dieses Schiff und da war er und noch viele andere, mitunter diese ältere, äußerst attraktiv wirkende Frau. Sie alle fuhren auf diesem Schiff in die Nacht hinein, die damals so lange, viel länger als üblich, dauerte und er hatte kein sexuelles Verlangen, bloß Sehnsucht nach Liebe. Wie überall wurde auch dort heftigst Alkohol konsumiert und unter all den Schülern mischte sich diese attraktive Frau, die am meisten von allen trank und auch, so schien es, am meisten vertrug. Auf ihn hatte sie es abgesehen. Ihn bekam sie, auf hoher See, Irland noch in weiter Ferne. Dort, auf diesem Schiff, aus ihrem Munde, hörte er diesen Satz zum ersten Mal: "Ich kann mich in jeden x-beliebigen Menschen verlieben, ich kann mich auch in ein Tier verlieben, heute bin ich in dich verliebt." Permanent wiederholte sie diesen Satz, als sie ihm die Hosen runterzog, als sie in ihn eindrang, davor und dazwischen. Er genoss es, glaubte, dieser Satz sei eine Art Mantra, die jeder Mensch beim Liebesakt von sich geben muss. Mittlerweile weiß er, dass dem nicht so ist, bereits die zweite Frau, die ihn liebte, wirkte etwas konsterniert, als er mit dem vermeintlichen Liebesmantra begann, aber erst die vierte Frau, die ihn liebte, sprach ihn darauf an. So sind die Menschen. Schweigen lieber irritiert als vermeintliche Probleme zu bereden, die in Wahrheit zwar keine sind, aber welche sein könnten, man kann ja nie wissen.

Rund
um ihn schienen alle in Auflösung begriffen, die Pupillen glänzen feucht, die Gesänge verstummten, die lyrischen Anwandlungen ebenso. Absacken in die Würdelosigkeit. "So, jetzt ist aber genug, meine Herrschaften!" "Wie heißt du eigentlich?" Diese Frage, in diesem Moment, war sehr mutig, denn ihr Gesicht verhärtete sich, "Stahlstachel!", lallte jemand aus der Auflösungsrunde, "Saalkachel!", lachend ein anderer, und sie, die in Gedanken bereits im Bett liegt und nur noch pro Forma hier herumsteht, bittet zur Kassa. "In Irland, in einem Pub wie diesem, und auch in jedem anderen Pub in Irland, wird die letzte Runde eingeläutet. Jeder Gast weiß, es gibt keine zweite letzte Runde und sie halten sich auch alle ausnahmslos daran. Wie heißt du eigentlich?" "Wir sind nicht in Irland." Eine typisch österreichische Antwort und typisch österreichische Antworten ärgern ihn, solange er denken kann und denken kann er immer, denn er ist nie besoffen, egal, wie viel er trinkt und manchmal trinkt er verdammt viel, aber da er gerade dabei ist, sich in sie zu verlieben, verzichtet er darauf, etwas Adäquates zu erwidern, er möchte ja mit ihr irgendwie ins freundschaftlich-freundliche Gespräch kommen. "Warst du schon einmal in Irland?" "Schon öfters." Na, das ist doch schon ein Beginn, auch wenn das freundschaftliche und auch das freundliche noch etwas zu kurz gekommen ist. Zeit später, nach getaner Bewegung von hier nach dort, liegt er in seinem Bett, und sie endlich in ihrem Bett. Sie denkt, die Ruhe wohlverdient zu haben, und schläft ein. Er hört im Traum die Stimme dieses verrückten ersten weißen Rock'n'Roll-Sängers, der aufgrund seiner unattraktiven Erscheinung bis heute kaum bekannt ist, ganz im Gegensatz zu Elvis Presley, Übergewicht hin oder her, der ja selbst den Tod überlebte. Als sie im Lokal das Weinglas leerte, zitierte er den unbekannten Sänger, wild und rhythmisch, wie es sich für einen Rock'n'Roll-Sänger ziemt: "Wine goes in, the truth comes out", dann erneut die Frage, wie sie denn heiße: "Du mußt jetzt gehen." Und: "Poka." //

Text: Manfred Horak