Ein Mythos ist ein öffentlicher Traum, sagte mal Mythologe Joseph Campbell, und Metaphern, die auf ein transzendentes Geheimnis deuten, den Menschen durchs Leben geleitend. Sich musikalisch Mythen anzunähern ist freilich nix Neues und schon gar nicht im Zeitalter des culture recycling, Stichwort Retro.

Die Vereinnahmung alter Songmaterialien gibt es daher in unzähligen Formen, von der einfachen Cover-Version bis hin zur Inspiration basierend auf eben jener alter Songs bzw. das Herauspicken einzelner Elemente - sei es Textzeilen, Akkorde, Arrangements, Harmonien, ganze Melodielinien - und gerade die größten Rockmusiker & -bands bedienten sich diesem Recyclingverfahren; von Velvet Underground bis Nirvana, von Bob Dylan bis Tom Waits, von Rolling Stones bis The Beatles. Warum sie dennoch wichtiger als andere sind und größer erscheinen als der Rest resultiert daher, wie sie die alten originalen Ingredienzien zu einer neuen originalen Musik verarbeit(et)en, nämlich als geheimnisvolles Vexierbild einer unsichtbaren Republik im Geiste Harry Smiths oder Greil Marcus'.

Jene, die Musik als Hintergrundlärm benützen und darauf verzichten, eines der kostbarsten aller Güter dafür einzusetzen, Zeit, werden bei oben erwähnten Bands und Musikern ebenso scheitern wie an jener CD und Musikerin, um die es an dieser Stelle geht, um "Escondida" von Jolie Holland. Die Musikerin ist Anfang 20, hatte im Alter von sechs Jahren ihre erste Komposition niedergeschrieben, konzentrierte sich bis zu ihrem 15. Lebensjahr auf Klassik, ab 15 auf frühen Jazz und Folk. Blues fand sie so lange langweilig, bis sie auf die alten Blues-Men & -Women stieß, auf Blind Willie McTell, auf Rosetta Tharpe, und die Musikbibel kennen lernte, Harry Smith's "American Anthology of Folk Music". Aufgewachsen ist sie in Texas und in New Orleans, derzeit lebt sie in San Francisco, davor in Vancouver, dort war sie auch Mitbegründerin der Band Be Good Tanyas.

So viel zu ihrer Kurzbiografie, und jetzt zurück zum Album, mit ihren beinahe schon meditativen Gesangslinien und den, selbst nach dem x-ten Hören, überraschenden Wendungen in Songs und Texten. Die musikalische Gesamtstimmung wurde bereits anhand eines schrecklich verschwommenen Photo am Albumcover von "Escondida" optisch umgesetzt, dem offiziellen Debütalbum und gleichzeitigem Nachfolgealbum vom Ausnahmealbum "Catalpa". War "Catalpa" noch very Lo-Fi, weil es ja nie zur Veröffentlichung bestimmt war, da in diversen Wohnzimmern eingespielt, so ist "Escondida" beinahe schon Hi-Fi, in jedem Fall das betörendste Debütalbum seit langem, sehr langem. Umwerfend das singende Säge-Solo von Enzo Garcia auf "Darlin Ukelele" und dann erst die feinen Melodien bei "Sascha", "Black Stars" und "Goodbye California", die kargen Fellbearbeitungen von Jazz-Drummer Dave Mihaly, die philosophischen Gitarrenparts von Brian Miller, nicht zuletzt was und wie Jolie Holland singt. Jolie Holland hat das Zeugs Stimme für eine Generation zu werden, ihre Songs sind, das kann man bereits jetzt attestieren, zeitlos und überdauern, wie die Songs oben erwähnter Künstler, jeden Musikhype locker. Jolie Holland und ihre Songs sind Teil jener Kultur, die Greil Marcus in seinem Buch "Invisible Republic" das bizarre, verrückte Amerika nannte. "Escondida" ist vollgepackt mit Songs, die sich mit jedem Mal mehr Hören öffnen und bislang verstecktes, verborgenes preisgeben. "Escondida" von Jolie Holland ist, den Albumtitel in die deutsche Sprache übersetzt, also letztendlich ein sich selbst erklärendes Album. (mh) 

Musik: @@@@@
Klang: @@@
Label/Vertrieb: Anti / Edel (2004)