Steirischer Herbst 2020 Freud

Steirischer Herbst 2020 begibt sich auf neue Pfade und installiert mit Paranoia TV ein digitales Angebot. Zu sehen und hören bis 18.10. Als Moderator fungiert dabei ein virtueller Avatar von Sigmund Freud.

Sigmund Freud, der als Vater der Psychoanalyse gilt, war einer der ersten Denker, der über Paranoia und verwandte Begriffe schrieb, obwohl die Realität sich in vielen Fällen als radikaler als seine Theorien erwies. So schrieb Sigmund Freud in seinem Buch "Die Abwehr-Neuro-Psychosen" (1894) z.B. "Der Paranoide täuscht sich nie vollständig", was in abgewandelter Form 100 Jahre später in die Pop-Kultur einfloss, als Kurt Cobain (Nirvana) im Song "Territorial Pissings" sang: "Just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not after you" (dt: "Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind"). Trotz der Ernsthaftigkeit von paranoiden Wahrnehmungsstörungen und den oft verheerenden Folgen für die Betroffenen vor allem im sozialen Zusammenleben hält insbesondere der Aspekt des Verfolgungswahns oft als "komisches" Szenario für Fernsehserien, Spiele, aber auch Verschwörungstheorien her. Letzteres ist bekanntermaßen ein beliebtes Mittel, um die Coronavirus-Pandemie zu leugnen. Die sogenannten "Querdenker" oder Pseudo-Prominenz wie der vegane Koch Attila Hildmann leben ihre Paranoia in ihren abstrusen Verschwörungstheorien aus. Steirischer Herbst 2020 setzt gewissermaßen hier an und greift die im wesentlichen von Angst und Unsicherheit geprägte Atmosphäre der heutigen Zeit auf, denn was aktuell bleibt ist die Angst vor einer zweiten Welle, was sich mitunter in Abscheu vor öffentlichen Räumen äußert, der Atem potenziell ansteckender fremder Personen und die Angst vor uns selbst: Jede/r von uns könnte das tödliche Virus asymptomisch verbreiten. Paranoia also, wohin man sieht, die vermutlich auch nicht so bald wieder verschwinden wird. Steirischer Herbst 2020 verdrängt all dies nicht, sondern, im Gegenteil, stellt es ins Zentrum, und setzt sich direkt damit auseinander, indem sich das Festival als Medienkonzern erfindet und mit Paranoia TV als dystopisches Paralleluniversum an den Start geht.

Unsichere Zeiten auf sicheren Kanälen

Steirischer Herbst 2020 PhotoautomatParanoia TV sendet auf den unterschiedlichsten Frequenzen. Auf der gekaperten Website von Steirischer Herbst 2020  finden sich dann von Künstlerinnen und Künstlern produzierte Talkshows, Fernsehserien, Live-Gespräche und Diskussionsrunden. Manches davon weitet sich in die reale Welt aus, sprich, wird auf den Straßen von Graz und der Steiermark live erlebbar sein. Zusätzlich gibt es eine eigens entwickelte kostenlose App zum Download. Sie bietet die Möglichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort in die Welt von Paranoia TV einzusteigen, um einen Überblick über das Programm zu erhalten, Beiträge zu lesen/hören/sehen oder sich per Eilmeldungen über die neuesten Entwicklungen zu informieren. Gezeigt werden unter der Intendantin Ekaterina Degot ausschließlich neue Auftragswerke, die dank des experimentellen Formats in jedem Fall realisiert werden können. "Wir haben die Künstler*innen darum gebeten, Arbeiten zu entwickeln, die sowohl in einer Zeit des Lockdowns, als auch in einer wie auch immer gearteten 'Normalität', als auch dazwischen funktionieren können", sagt Ekaterina Degot über das heurige Programm. Der Auftrag an die rund 40 Künstlerinnen und Künstler lautete: Setze dich mit den Dringlichkeiten und Missständen unserer Zeit auseinander, dies in verschiedene Richtungen, von imaginär installiert bis sozial distanziert und deepfake therapiert. Um nur drei herauszupicken: Ersteres findet sich am Burgring in der Installation "Dictionary of Imaginary Places" von Vadim Fishkin. Zwei Straßenlaternen flüstern sich Namen von geheimnisvollen, weit entfernten Städten und Ländern aus der Welt der Literatur zu, Orte, nach denen man sich sehnt in einer Zeit, in der das Reisen nur noch schwer möglich ist. Der Photoautomat am Eisernen Tor von Akinbode Akinbiyis wiederum lädt ein Passfotos von sich zu machen. Heraus kommen allerdings Fotos von Berlin während des Lockdowns. Fotos also von einer unheimlichen, sozial distanzierten Stadt, geprägt von universeller Einsamkeit, passend auch zum neuesten Song von The Rolling Stones, die da singen: "Life was so beautiful / Then we all got locked down / Feel like a ghost / Living in a ghost town." Nicht zuletzt lädt eine digitale Reinkarnation von Sigmund Freud zu einer interaktiven "Therapiesitzung" ein. Während der Festivallaufzeit kann das Publikum mit ihren Sorgen und Ängsten an den Deepfake-Avatar des Paranoia-Experten herantreten und brennende Fragen stellen - und dank künstlicher Intelligenz und „machine learning“ auch Antworten erhalten. //

Text: © Manfred Horak
Fotos: Mathias Völzke bzw. Paranoia TV
 Videostill © steirischerherbst

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