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mammuth05Eine Reise in die Vergangenheit ist ja in Wirklichkeit auch nur ein Schritt auf dem Weg nach vorn, die eigene Uhr kann man schließlich nicht zurückdrehen. Die Vorzeichen sind nur andere: Alte Erfahrungen helfen, die Gegenwart anders zu sehen. So auch bei Serge Pilardosse alias Gérard Depardieu.


Pilardosse hat den letzten Tag in einem Schlachtbetrieb hinter sich und damit auch den letzten Tag seines gesamten Arbeitslebens. Er weiß nun nicht, was er tun soll. Die Liebe zwischen ihm und seiner Frau Catherine scheint durch den Alltag aufgezehrt und nicht nur, dass er keine Beschäftigung hat, er ist buchstäblich hilflos außerhalb seiner geregelten Arbeitswelt. So reißt er am Supermarkt den Einkaufswagen lieber ab anstatt ihn mittels einer Münze zu lösen und entfernt sich still, als er einen kollabierten Greis in der Tiefkühlabteilung liegen sieht. Als ehemaliger Fleischer blüht er an der Wursttheke auf, versteht es aber nicht mit dem Angestellten der Situation angemessen zu kommunizieren. Man kann mutmaßen, ob Kleinkind oder Eremit, ob noch nicht oder nicht mehr sozialisiert. Anders seine lebenstüchtige Frau, die ihm genaue Anweisungen gibt und geben muss: Sie will im Gegensatz zu ihrem Gatten aufhören zu arbeiten. Dazu haben sie aber zu wenig Geld, da Serge einige Arbeitsbelege für einen vollen Rentenanspruch fehlen. Sie schickt ihn also kurzerhand los, die Nachweise zu besorgen. Für diesen Trip kommt nur das alte Motorrad in Frage, eine Münch-Mammut aus den 70ern, die Serge auch einst den Spitznamen 'Mammuth' einbrachte. So zieht der langhaarige Frisch-Pensionist als Relikt aus alten Zeiten auf einem ebensolchen in eine ihm fremd gewordene Welt.

Depardieu als asoziales Riesenbaby

Das Bild des Mammuts ist natürlich zentral. Groß, schwer, behäbig aber kraftvoll. Und eben auch ausgestorben. Als Darsteller der physischen Charakteristika dieses vorzeitlichen Tieres ist Gérard Depardieu natürlich bestens geeignet. Das anachronistische Moment seiner Existenz übernimmt das Drehbuch. Das Motorrad fungiert als Spiegelbild. Wuchtig, langsam und beinahe antik. Mit dabei hat der zottelige Serge nur ein Handy (das er mit seinen Schlachterpranken kaum zu bedienen weiß) und einen Metalldetektor, der bei der Münzsuche am Strand helfen soll. Metalldetektor? Was denn sonst? Wer Schätze bergen will, muss sie schließlich erst finden – eine klare Allegorie. Den Weg säumen neben alten Kollegen allerhand skurrile Personen und Begebenheiten. Klar wird dabei auch, Mammuth ist nicht einfach dissozial, er ist in erster Linie von äußerst spartanischem Gemüt: ein gutmütiger Trottel.

Seelenheil durch eine Irre?

Schutzengelgleich erscheint ihm in schwachen Momenten seine Jugendliebe (Isabelle Adjani): Sie ist wohl bei einem Unfall ums Leben gekommen und flüstert ihm aus dem Jenseits ätherische Botschaften zu. Ein Kunstgriff, auf den man besser verzichtet hätte, die Szenen fügen sich - vielleicht auch aufgrund der Besetzung – nicht stimmig ins Gesamtbild. Ebenfalls wie aus einer anderen Welt wirkt die Figur seiner Nichte, doch erfrischender und ohne esoterischen Beigeschmack. Gespielt wird sie von Miss Ming, einer französischen Universalkünstlerin, die wohl für den Film nicht viel schauspielern musste (die Filmrolle hat auch den gleichen Namen wie die Künstlerrolle der realen Welt). Einem Kind nicht unähnlich in der Aufrichtigkeit ihrer Feststellungen, aber doch losgelöst von sozialen Zwängen und Pflichten und damit eher wie ein himmlisches Wesen spricht sie Mammuth in einer Sprache an, die er zu verstehen scheint. Simple metaphorische Sentenzen und einfache Gesten zeichnen diesen Charakter aus. Der Zuschauer bleibt aber im Unklaren darüber, ob es sich um eine Person mit tatsächlicher geistiger Behinderung handelt oder um eine, die das Attribut "differently gifted" im Wortsinn verdient. Mit dem Aufenthalt im Paralleluniversum seiner Nichte erfährt der Mammuths Exkurs den entscheidenden Sinnwandel. Eine Reise in die Vergangenheit endet schließlich immer wieder im Jetzt und Hier. So auch bei Serge Pilardosse, der auszieht, um mit mehr nach Hause zu kommen. Dieses Mehr ist aber von anderer Qualität als geplant. Der Film besticht mit einer Bildästhetik, die teilweise an Super-8-Zeiten erinnert. Er ist lyrisch, allegorisch und doch auch unterhaltend, also keine reine schwere Kost. Für Depardieu-Fans eh ein Muss, für Freunde des französischen Films ein Soll, für andere ein Kann. (Peter Baumgarten; Fotos: © Filmladen Filmverleih

mammuth_plakat
Film-Tipp:
Mammuth
Bewertung: @@@@
Kinostart: 1. Oktober 2010
Verleih: Filmladen / Apomat

Ein Film von Benoît Delépine & Gustave Kervern
Mit Gérard Depardieu, Isabelle Adjani, Yolande Moreau, Miss Ming, u. a.
Frankreich 2010 / 35 mm, Farbe, 92 Min.