max-raabe-uebers-meerMan würde nicht lügen, wenn man - noch vor Veröffentlichung und erstem Hören - behauptete, bei der Produktion "Übers Meer" von Max Raabe handele es sich um ein Hitalbum. Es reicht ein Blick auf die Titelliste.

Max Raabe ist keiner, der die Kunst neu erfunden hat. Jedoch hat er eine schon dagewesene Ästhetik zum richtigen Zeitpunkt wieder ausgegraben - was für sich ja "eine Kunst" im umgangssprachlichen Sinne ist - und diese nicht nur halbherzig belebt, sondern allumfassend: Handwerklich perfekt, aber vollkommen auch in der Darreichung. Die Kunstfigur Max Raabe ist auch ohne Gesang ein Zeugnis der lebensbejahenden Zwischenkriegszeit.

Originale in Originalversion

Unter diesem archäologischen Aspekt ist die aktuelle Liedersammlung, nicht mit Orchester eingespielt, nur reduziert von Christoph Israel am Flügel begleitet, bezeichnend. Keine Eigenkompositionen im Stile der 1920er und 1930er Jahre, keine Transkriptionen aktueller Popmusik, wie man sie auch vom Künstler kennt, schlicht Originale in Originalversion. Da mag man sich wundern: "Naja, bei dieser Art des Singens, altes Liedgut und dann auch noch nur mit Klavier, bleibt da genügend Spielraum für eine individuelle Note?" Ich habe mich das zumindest gefragt. Man hört auf jeden Fall, dass Max Raabe singt. Das wird dem einen oder anderen egal sein, der nur die schönen alten Lieder hören will - welcher Bariton da trällert, ist dann wurscht. Meiner Meinung nach aber sollte man diese CD erstehen, nicht nur weil ein trotz Digital Remastering immer noch knarzender und rauschender 2,99 € Kaufhaus-Sampler mit Klassikern der Schellack-Ära niemals an diese Klangqualität herankommt. Es gibt einen anderen Grund. Der Künstler zeigt gerade hier, wo ihn die Hände aus Materialgründen recht fest gebunden sind, seine Klasse. An der einen Stelle ein bisschen vorgezogen, an der anderen ein bisschen gewartet, dann wieder im Takt und zwischendurch rezitativisch. Obligatorisch Max Raabes rollendes R und eine logopädisch einwandfreie Artikulation, gepaart mit einer beeindruckenden Elastizität zwischen jauchzender Falsettstimme und sonorem Bass. Alles leichtfüßig, als wär's nur aus einem Übermut, einer Laune heraus gesungen - unter der Dusche, nicht für großes Publikum. Außerdem glaubt man, den anachronistischen Herrn, wenn er seine Couplets zum Besten gibt, vor sich zu sehen, in Schwalbenschwanz und Kummerbund, mit aufrechter Körperhaltung und hochgezogener Augenbraue. Da ist man wohl schon konditioniert.

Evergreens der Weimarer Republik

Wie eingangs beschrieben, eine immergrüne Hit-Kollektion: "Lebe wohl, gute Reise" oder "Ein Lied geht um die Welt" - um diese Titel zu kennen, muss man nicht auf ein 90jähriges Leben zurückblicken können. Sie waren einst Gassenhauer, haben politische Wirren überlebt und sind weitestgehend geschichtlich unbefleckt, auch wenn - darauf weist das Booklet hin - mit einigen Stücken große reale Tragik verbunden war. Trotz der neun Dekaden auf dem Buckel ist die Schönheit dieser Melodien alterslos. Wehmut bleibt dennoch, waren diese Lieder doch im Ausland ein Stück willkommener deutscher Kultur. Mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten verschlechterte sich, abgesehen von allem anderen, das Ansehen der deutschen Sprache und hat sich bis heute nicht davon erholt. Es handelt sich also um Souvenirs aus den letzten Tagen eines Deutschlands, dessen Sprache die der Dichter und Denker war und nicht die der Scharfrichter und Henker.

Keine Angst, das Album ist sehr heiter: Frivol mehrdeutig sind die Texte, delikate Stellen werden einfach weggepfiffen - der Hörer mag sich selbst ergänzen was er hören will - die Geschichten sind leicht und doch auch schwer. Eben ein Abbild der Zeit. Oder jeder Zeit? Unserer zumindest. Wirtschaftlich gibt's ja wieder was zu meckern und Liebesleid hat eh nie Pause. Also auch aktuell. Abseits von solchen Überlegungen: Empfohlen ohne Altersfreigabe. Schon nach geringem Konsum wird man anfangen mitzusingen. Oder selbstvergessen ein Liedchen anstimmen auf dem Weg zur U-Bahn. Oder zumindest pfeifen. Die Melodien sind einfach unwiderstehlich. Und ehrlich: Ich bin froh, dass nicht das große Orchester begleitet. Das Piano alleine genügt, mehr wäre zu viel. Die sparsame Darbietung unterstreicht, was die Lieder auszeichnet - Substanz ohne Firlefanz. (Peter Baumgarten)

CD-Tipp:
Max Raabe: Übers Meer
Musik: @@@@@
Klang: @@@@@
Label/Vertrieb: Decca/Universal (2010)