Wir biegen nun in die letzte Station unserer McCartney-Artikelreihe ein und werfen einen Blick zurück in den sizilianischen Sommer anno 2018.

Es ist Sommer. Ich bin mit dem Auto auf Sizilien unterwegs und höre den besten italienischen Radiosender: Virgin Radio. Innerhalb weniger Tage fällt mir auf, dass ein Lied ungewöhnlich oft gespielt wird. Es hat einen ansprechenden Rhythmus und einen interessanten Text, doch ich kann den Interpreten anhand des Stückes nicht ausmachen. Nachdem mich die Neugier überwältigt, befrage ich die Suchmaschine meines Vertrauens und siehe da: Es ist die erste Auskoppelung des neuen Albums von Paul McCartney. Somit beantwortet sich auch die Frage von selbst, warum Virgin Radio dieses Lied so oft spielt.

Wenn sich der rote Faden offenbart

Nachdem ich vom Urlaub wieder zuhause bin, schmökere ich in die Hörproben von "Egypt Station" erstmal auf iTunes hinein. Die Appetithäppchen vermitteln den Eindruck, dass es sich dabei nicht um ein Konzeptalbum handelt, bei dem ein Lied in das nächste übergeht, sondern dass die Lieder vielmehr einzeln und für sich stehen. Durch ihre große Bandbreite bilden sie eher eine Art Mosaik, bei dem jeder Stein anders ist, aber sie gemeinsam ein schönes Bild ergeben. Nach mehrmaligem Hören des gesamten Albums löst sich dieser Eindruck langsam auf und man erkennt die Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Tracks und der rote Faden offenbart sich.

Textuelle und instrumentale Verstrickungen

Den Rahmen für "Egypt Station" bilden "Opening Station" (Track 1) und "Station II" (Track 15), die auch die doppelte Assoziation der Station als Bahnhof und als Radiostation rein instrumental vermitteln. "I Don't Know" führt dann langsam mit Klavierbegleitung in den Textkörper des Albums ein. Obwohl McCartney schon mehr als 70 Jahre auf der Welt ist und seit mehr als 50 Jahren als Musiker tätig ist, hat er immer noch Zweifel: "What am I doing wrong?", "Why am I going wrong?" Durch die Texte der Lieder des Albums lassen sich ebenfalls Parallelen erkennen; So heißt es in "Hand in Hand": “Wanna give you my heart [...] Wanna give you my word", und in "Get Started": "I'll give you my heart, I'll give you my word". Die letzten Worte des Albums spiegeln dann das Ende des kreativen Prozesses des Liederschreibens und der Albumskonzeption wider: "My brain stopped working today".

Besser nicht live

Das erste Lied, das von dem Album veröffentlicht wurde und das mir Virgin Radio so vehement ans Herz gelegt hat, ist "Come On to Me". Als eines der schwungvollsten Lieder ist es gut gewählt, um Lust auf mehr zu machen. Man sollte Live-Auftritte davon jedoch eher meiden, da man beim bloßen Hören leicht verdrängen kann, dass ein 76-Jähriger "If you come on to me / then I'll come on to you" und "you wanted so much more than casual conversation" singt. Doch McCartney erklärt selbst, dass er sich beim Schreiben dieses Tracks in sein junges Alter Ego aus den 1960er Jahren hineinversetzt hat. Bei den Instrumenten sticht vor allem das Schlagzeug heraus, das den Rhythmus von der Erstauskoppelung bestimmt, ebenso wie im etwas ruhigeren "Dominoes" und dem ersten Bonus-Track "Get Started", die "Come On to Me" musikalisch sehr nahe sind.

Auf den Spuren der Beatles

In "Dominoes" setzt McCartney auch eine Akustik- statt einer E-Gitarre ein und unterlegt es noch mit einem verspielten Bassriff. Mit Reimen wie "all the dominoes are falling [...] all the telephones keep calling" drückt er das Phänomen aus, dass kleine Ursachen große Wirkungen haben können; am Ende wird jedoch alles wieder gut. Auch in "Get Started", dem poppigsten Liebeslied des Albums, dominieren Schlagzeug und Akustikgitarre. Wie in alter Beatles Manier, z.B. in "I Want You (She's So Heavy)", gibt es eine Zäsur am Ende, die das Lied ins Rockige und Experimentelle hinübergleiten lässt. Dieser Stil- und Rhythmuswechsel taucht auch an anderen Stellen auf. "Despite Repeated Warnings" ist zum Beispiel zweigeteilt: in einen ruhigeren Anfang, der am Ende wieder aufgegriffen wird, und einem rockigeren, schnellen Mittelteil mit der Message "Yes we can do it". Die Dreifaltigkeit von "Hunt You Down/Naked/C-Link" ist sogar schon im Titel markiert. Hier handelt es sich fast schon um drei eigenständige Lieder. "Station II" nimmt bereits das Anfangsriff von "Hunt You Down" vorweg und führt so nahtlos in den blueslastigen ersten Teil über - wie auf der B-Seite von "Abbey Road". "C-Link" hebt sich besonders hervor, da es das einzige E-Gitarrensolo darstellt, in dem sich McCartney dem Saiteninstrument voll und ganz hingibt. Die Hommage, die er der E-Gitarre darin zuteilwerden lässt, setzt er in "Confidante" auch auf der Ebene des Textes um. Es ist ein Liebeslied an seine alte akustische Martin Gitarre, die immer für ihn da war und die er seine Geheimnisse anvertrauen konnte.

Umwelt und Frieden

Neben den klassischen Themen der Liebe und Freundschaft, greift McCartney aber auch politische und soziale Probleme auf. "Who Cares" widmet sich dem immer problematischer werdenden Bullying, dem sich so gut wie jeder Mensch an einem Zeitpunkt seines Lebens konfrontiert sieht. In "Despite Repeated Warnings" spricht er in Form einer Metapher das globale Problem der Umweltzerstörung an. Ein verrückter Seemann bringt seine Crew und sein Boot trotz wiederholter Warnungen in Gefahr, so wie eine Vielzahl der Menschen die Bedrohung unseres Ökosystems noch immer nicht anerkennen wollen. Der rockige Teil des Liedes stellt dann die Problemlösungsversuche und die geplante Rebellion dar: "How can we stop him, grab the keys and lock him up / If we can do it we can save the day". "People Want Peace" vermittelt wiederum - wie der Titel schon vermuten lässt - eine andere Nachricht. Es ist mehr ein Manifest als ein Lied, in dem McCartney seine Zuhörerschaft begrüßt, als würde er vor ihr stehen und sein Anliegen vortragen. Doch auch diese wird durch Schlagzeug und E-Gitarre untermalt, zu denen sich noch das Klavier und Streicher dazu gesellen.

Hitverdächtig

Die Instrumente auf "Egypt Station" hat McCartney bis auf wenige Ausnahmen selbst eingespielt - vor allem Bass, Schlagzeug und Gitarre. Es finden auch Blas- und Streichinstrumente Eingang und das Klavier übernimmt oftmals die Funktion eines Basses (z.B. in "Hunt You Down"). Angelehnt an The Beatles kombiniert McCartney in "Back to Brazil" Naturgeräusche mit elektronischen Klängen. Der zweite und letzte Bonus-Track, "Nothing for Free", zeichnet sich durch jugendliche Sounds aus und bekommt durch die Stimmverzerrung von McCartney einen ungewöhnlichen Klang, wie wir es ja auch bereits aus seinen Alben wie "McCartney II" (1980) kennen. Es stellt auch eines der mainstreamtauglichsten Stücke des Albums dar, neben "Come On to Me" und "Fuh You", die sich ebenfalls als Hits qualifizieren. "Fuh You" kann man sich besonders gut in der nächsten Liebeskomödie à la Hollywood mit Katherine Heigl oder ähnlichem Cast vorstellen, vorausgesetzt die bereits zensierte Zeile "I just wanna fuh you" wird herausgenommen.

Weihnachtsgeschenktauglich

"Egypt Station" verbindet rockige Stücke wie ruhige Balladen und hat somit für variable Geschmäcker und Gefühlslagen einiges zu bieten. Das Highlight für Rocker ist "Caesar Rock", das mit einem ungewöhnlichen Strumming-Rhythmus aufwartet. "Happy with You" und "Hand in Hand" sprechen als Kern der Liebeslieder eher die gefühlvolle Seite an, in denen McCartney seine wilden Zeiten mit der Harmonie des Erwachsenen(liebes-)lebens gegenüberstellt. Somit eignet sich das 18. Soloalbum von Paul McCartney bzw. das einschließlich der Wings-Alben, der Fireman-Alben, der klassischen Alben, der Livealben und Kompilationsalben das 47. Album von Paul McCartney nach der Trennung von The Beatles auch für die bevorstehende ruhigere und besinnlichere Zeit und beschert dem einen oder anderen mit Sicherheit eine große Freude, wenn es unter dem Christbaum hervorgeholt wird und in das passende Abspielgerät eingelegt wird. //

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Text: Nina Elisabeth Isele
Foto: #FanArtFriday von Instagram User reikotanahashi via paulmccartney.com

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